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Ende im grünen Tal

Laiendarsteller in der Wunschmaschine Film: Abbas Kiarostami schreibt mit „Durch den Olivenhain“ seine persische Privatchronik fort  ■ Von Mariam Niroumand

Seit der Krieg gegen den Nachbarn vorbei ist, hört man wenig aus dem Iran. Bestenfalls noch taucht das Land als Financier weltweiten Terrors oder Verkünder atavistischer Bannflüche und Todesdrohungen aus Vorderasien auf. Welches Echo die Invektiven aus der Hauptstadt auf dem flachen Land haben, wie die Teheraner Alltagskultur die häufiger wechselnden islamischen Kleidungscodes absorbiert, ist unbekannt, wahrscheinlich auch im Land selbst.

Abbas Kiarostami, der 1940 in Teheran geborene Regisseur, Maler, Fotograf, beschickt seit Jahren internationale Filmfestivals mit seinen Arbeiten unter der Prämisse, daß er sein Land liebt und nicht vorhat, in Paris, Locarno oder Cannes Schlechtes darüber zu verbreiten. Auf diese Weise hat er schnell alle abgeschüttelt, die von „Dritte-Welt-Regisseuren“ eben doch noch hauptsächlich verfilmte Pamphlete erwarten. Daß er statt dessen nun die Filmsemiotiker am Hals hat, die den Spiegeln und montagefreien laaaaang durchgehaltenen Totalen in seinen Filmen auf der Spur sind, rührt ihn offenbar wenig. In Interviews pflegt sich der stets freundlich Zugewandte hinter Brillengläsern zu verstecken und Sätze von sich zu geben, die so klar und erfahrungsgetränkt sind, daß sich sogar die Cahiers du cinéma genötigt sahen, ihr Kiarostami-Interview in Form von „reality- bites“, kleinen, nach Themen geordneten Zitaten zu präsentieren.

Ein orientalischer Grimmelshausen

Kiarostami war Verkehrspolizist, bevor er Werbefilme drehte, und er war es nicht ungern. Unter den didaktischen Filmen, die er wenig später drehte, ist „Mit oder ohne Ordnung“ einer der famosesten. Der Film zeigt, zunächst streng dualistisch, je zwei Arten, etwas zu tun: die geordnete und die ungeordnete. Kinder besteigen einen Bus, ungeordnet: ein Mädchen purzelt vom Trittbrett, ein Junge verliert sein Heft, auf dem sein Nachbar unfreiwillig herumtrampelt, Sozialdarwinismus reckt sein Haupt. Geordnet: In Zweierreihen entwickeln sich Gespräche, der Fahrer kann befragt werden und hat Lust, zu antworten, auch die Zarten haben eine Chance auf die vorderen Plätze. Aber Kiarostami wäre nicht, der er ist, wenn er es bei dieser einfachen Common-sense- Phraseologie beließe. Er zeigt auch, wie im Verlauf der Dreharbeiten ein Chaos im Filmteam ausbricht, im Streit um die Frage, wer die Sache hier überhaupt noch in der Hand hat. In der Burleske, die Kiarostami aus dem Ärmel schüttelt wie nur ein orientalischer Grimmelshausen, grinst einem die Verführung durch die Entropie entgegen. Die Mühen hinter der Erarbeitung von Gesetzen zur Organisation von Öffentlichkeit – hier können's die Sechsjährigen schon lernen.

Nach weiteren Instruktionsfilmen über die Vorteile von Rädern, über Gebisse oder Hochzeitskostüme folgte schließlich „Der Mitbürger“ (1983), der ganz einem Verkehrpolizisten an der immer gleichen Kreuzung eines Verkehrsknotenpunkts in Teheran gewidmet ist. Alle Argumente, auch die aus dem Jeep herausgebrüllten, werden aufgezeichnet.

Diese kleinen Lehrfilme entstanden in den siebziger und frühen achtziger Jahren, zwanzig Jahre nachdem Kiarostami Leiter der neugegründeten Filmsektion am „Institut für die geistige Entwicklung von Kindern und jungen Erwachsenen“, kurz Kanun genannt, geworden war. Dieses Institut war noch von der zu plötzlichen Wohltätigkeitsimpulsen neigenden Frau des Schah gegründet worden. Mit nicht geringer Überraschung stellten Mitarbeiter und Freunde des Instituts fest, daß man sie unter der islamischen Republik weiterarbeiten ließ, wenn auch unter neuen, zum Teil grotesk film- unfreundlichen Auflagen (keine Großaufnahmen von Frauengesichtern, bei Dreharbeiten tauchen Behördenvertreter auf, um zu kontrollieren, ob islamische Kleider- und Verhaltensregeln eingehalten werden (deren Launen natürlich auch eine Form von Unordnung sind ...).

Nur ein einziger von Kiarostamis Filmen fiel der Zensur zum Opfer: Er hieß „Fall Nummer 1, Fall Nummer 2“ und dokumentiert ein bekanntes Angstszenario. Während der Lehrer etwas an die Tafel zeichnet, macht ein Schüler hinter ihm ein unappetitliches Geräusch. Der Lehrer fährt herum und schickt sieben Schüler, unter ihnen den Delinquenten, der nicht verraten wird, aus der Klasse. Kiarostami befragt moralische Autoritäten, Politiker, Intellektuelle, Geistliche, Eltern: Was tun in dieser Lage? Der Film war einen Monat vor dem Sturz des Schah, im Januar 1979, fertiggestellt worden. Man erschauert, unter den Interviewten einen freundlichen alten Herrn zu sehen, der sogar Partei für die Kinder ergreift und gewisse libertinäre Töne anklingen läßt, und den aber die Untertitel als den Hodjatoleslam Khalkali ausweisen, den Mann, der in den folgenden Jahren Hunderte von Oppositionellen hinrichten lassen würde. Ein Vertreter der bald darauf verbotenen kommunistischen Partei ist ebenfalls zu sehen, die interviewten Frauen tragen keine Kopfbedeckung – alles heute undenkbar. Fall 2: Nach einer Woche bricht einer der exilierten Schüler zusammen und denunziert den Störer. Alle kehren wieder in die Klasse zurück.

Die Spielfilme, die auf diese instruktive Phase folgten, schreiben eine eigene Zeitrechnung. „Wo ist das Haus meines Freundes“ (1987), der Film, mit dem Kiarostami im Westen reüssierte, ist eigentlich eine kleine Geschichte aus dem Dorf Koker im Nordwesten des Iran, in der es um Hausaufgaben und vertauschte Schulhefte geht (und um das Warten, das Einsam-in-einer-Totale-herumlaufen, über den Verbleib des Propheten: der Prophet wurde auch „Freund“ genannt). Sie wird mit dem folgenden verwoben, der „Hausaufgaben“ (1990) heißt und in dem Kinder zu der Frage sprechen, was bei ihnen die allabendliche Konkurrenz zwischen Zeichentrickfilm im Fernsehen und den zu erledigenden Hausaufgaben gewinnt (einer, der zu lügen versuchte, bricht vor der Kamera zahnlos in Tränen aus). In „Und das Leben geht weiter“ fährt ein Vater mit seinem Sohn nach Koker, um nach einer Fotografie aus „Wo ist das Haus meines Freundes“ herauszufinden, ob und wie die Protagonisten das schwere Erdbeben überlebt haben, daß die Region Gilan 1991 verwüstet hatte.

Unmittelbar politisch und alltäglich

Solchermaßen in einem eigenen Tagebuch herumspazierend hat Kiarostami dieselbe Mischung aus Abgeschiedenheit vom unmittelbar Politischen und zugleich größter Präsenz im Alltagsleben konstruiert, die auch die letzten Filme von Eric Rohmer, Nanni Moretti oder Spike Lee kennzeichnete. Die Gegenwart strecken oder ausdünnen, je nach Glückspotential, das sie abwirft, und die eigene Umgebung zur Kulisse machen – da kommen unter Umständen einige ziemlich satanische Verse bei heraus.

„Durch den Olivenhain“, nun endlich, sein neuester Film, kehrt ebenfalls nach Koker zurück. Keshavarz, ein Regisseur, bereist die Gegend, um einen Film über ein junges Paar zu drehen. Bei der Suche nach einer geeigneten Hauptdarstellerin steht der Regisseur in einem Meer von schwarz Verschleierten, sie sehen zunächst mal alle gleich aus und sagen dann aber Namen und Adresse (manche haben nach dem Erdbeben keine mehr). In solchen Bildern bringt Kiarostami, unauffällig, unprätentiös und leicht in der Burleske untergehend, seine Kurzmeditationen unter, etwa: mühsame Arbeit der Individuation; wird der Islam sie den Leuten abnehmen?

Schließlich finden sie in diesem großen Heer schwarzer Vögel ein Mädchen, Tahereh, deren Vorstellungen von einem schönen Kleid sich zunächst so gar nicht mit denen des Regisseurs treffen wollen (er will Folklore, sie will sich vor allem schick machen). Überall finden kleine Debatten statt; über das Kleid, mit den Bauarbeitern, mit den Kameraleuten. Niemals würde das iranische Fernsehen, in dem meiner Erinnerung nach viel belehrt, gebetet und gemahnt wird, solche Szenen zeigen. Ob Kiarostami allerdings will, daß man solche Vergleiche anstellt, und ihn also hinterrücks doch wieder zum Systemkritiker macht, bleibt konsequent offen.

Der potentielle Mime des jungen Ehemanns scheidet früh aus: wenn er eine Frau sieht und ansprechen soll, gerät er ins Stottern. Schließlich finden sie einen besseren; Hosein war der Lehrer in „Wo ist das Haus meines Freundes“, ein Laiendarsteller aus der Gegend, ein Teil der Welt, wie Kiarostami sie sieht. Hosein hat sich vorgenommen, nie wieder Bauarbeiten zu machen.

Zur Ehe braucht ein Mann ein Haus

Innerhalb kürzester Zeit katapultiert sich der Film aus dem Anfangsgewusel dieses „Filmbeznez“ und dieser Burleske hinein in ein seltsam traumverlorenes und trotzdem glasklares und lebendiges Tableau. Hosein nämlich liebt das Nachbarskind Tahereh schon seit Jahren innig, und vor dem Erdbeben hat ihre Großmutter ihm noch einen Korb gegeben: Ein Mann ohne Haus komme nicht in Frage. Jetzt proben sie, zehn Mal hintereinander, die gleiche Szene, als frisch Vermählte – Film ist für Hosein eine Wunschmaschine!

Als die Szene endlich im Kasten ist, nimmt Tahere eine Abkürzung durch einen enorm grünen Olivenhain, um nach den Dreharbeiten nach Hause zu kommen. Immer grüner wird das Tal, immer weiter. Man ist völlig benommen von diesem Grün, von Taherehs weiß- bläulichem Schleier, dem Rot im Blumentopf, den sie vor sich herträgt.

Hosein läuft ihr nach und sagt ihr endlich alles, alles, alles: „Hast du einen Stein oder ein Herz? Warum hast du mich auf dem Friedhof so angesehen, seitdem bin ich so krank! Ich liebe dich! Jetzt, nach dem Erdbeben, sind wir doch alle gleich, ihr habt jetzt auch kein Haus mehr. Ich kann ohne dich nicht mehr sein, Tahereh. Mal würde ich dir Tee kochen, mal du mir, das verstehe ich unter einer guten Ehe. Du bist doch ganz allein jetzt, wo deine Eltern tot sind, ich will dir ein Zuhause geben! Damit du nicht mehr traurig bist. Wenn du dich nicht zu sprechen traust, blätter zur Antwort in deinem Buch... Hast du einen Stein oder ein Herz?“

Oh Gott, denkt man, je länger sie laufen, Männer und Frauen, in weiter Ferne so nah, oh gottogott. Immer grüner wird das Tal, immer weiter entfernen sich die beiden von der Kamera. Eine Zeitlang hört man ihn noch rufen (sie schweigt hartnäckig), schließlich verstummt auch das. Zwei Punkte bewegen sich auf den Horizont zu. Einen Augenblick berühren sie sich.

„Durch den Olivenhain“. Regie: Abbas Kiarostami; Kamera: Hosein Jafarian Saba; Mit: Hosein Rezai, Tahere Ladania u.a. Iran, 1994, 103 Min.

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