Wurde Dubček ermordet?

Vor drei Jahren starb der „Vater des Prager Frühlings“ bei einem Autounfall. Er sollte bei einem Prozeß gegen die KPdSU in Moskau aussagen.  ■ Von Dietmar Bartz

Nur wenige Vertraute wußten, wohin Alexander Dubček am 1. September 1992 unterwegs war. Und nur seine engsten Mitarbeiter waren darüber informiert, was die Aktentasche des Initiators des „Prager Frühlings“ von 1968 enthielt. Außer Dubček befand sich nur sein Fahrer, Jan Reznik in dem schweren BMW, einem geleasten Dienstwagen des tschechoslowakischen Innenministeriums, der nachts und bei strömendem Regen auf der Autobahn von Brünn nach Prag raste.

Auf halber Strecke passierten sie das mährische Städtchen Humpolec. In der Rechtskurve bei Kilometer 88 stand Wasser auf der Fahrbahn. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit kam der BMW von der Straße ab und überschlug sich in dem angrenzenden Feld. Fahrer Reznik wurde nur leicht verletzt. Dubček jedoch brach sich Rückgrat und Becken und wurde ins Prager Homolka-Krankenhaus eingeliefert. Nach mehr als zweimonatigem Leiden starb der 70jährige dort am 7. November 1992. Ein Teil der Unterlagen aus der Aktentasche sind seit dem tödlichen Unfall verschwunden.

Das Gerücht, auf Dubček sei ein Anschlag verübt worden, kursierte zwischen Prag und Bratislava bereits wenige Stunden nach dem Unfall. Zu seltsam waren die Begleitumstände, zu gut paßte der Tod in die aufgereizte politische Landschaft der Tschechoslowakei. Den ganzen Sommer über hatten Enthüllungen über die Verbrechen des alten Regimes, aber auch über die immer noch nicht zur Rechenschaft gezogenen Mitarbeiter des Geheimdienstes StB für Schlagzeilen gesorgt. Warum, so fragten viele, sollte der StB nicht auch bei diesem Unfall seine Finger im Spiel haben.

In dieser Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hatte auch der unscheinbare, schmächtige Mann mit der langen Nase, der immer zu lächeln schien, seinen Platz. Denn Dubček war in der Tschechoslowakei im Unterschied zum westlichen Ausland keineswegs der allseits umjubelte politische Führer. Mit Dubček an der Spitze ihrer Partei hatten die tschechoslowakischen Reformkommunisten zwar begonnen, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen. Mit Alexander Dubček an der Spitze unterzeichnete die tschechoslowakische Delegation in der Sowjetunion aber auch die sogenannten „Moskauer Protokolle“. Diese legitimierten die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 nachträglich. Dubček selbst hat sich diese Unterschrift nie verziehen, und auch die Bevölkerung warf ihm Kapitulation vor.

Gerade im Herbst 1992 bot sich nun aber auch eine einmalige Gelegenheit, die Hintergründe der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings aufzuklären. In Moskau begann der lange vorbereitete Prozeß über ein Verbot der KPdSU. Hier sollte Dubček als Zeuge aussagen, seine Aktentasche enthielt die dafür notwendigen Dokumente.

Die Aufgabe des russischen Verfassungsgerichts war brisant. Sowohl die Strukturen des KGB als auch die des tschechoslowakischen Geheimdienstes StB waren teilweise noch intakt. In beiden Ländern gab es weiterhin eine Reihe einflußreicher Politiker, die kein Interesse an einer Aufklärung der Invasion des Jahres 1968 hatten. Erst Mitte August, zwei Wochen vor dem Unfall, war es Jiři Valenta, dem Chef des Instituts für Internationale Beziehungen in Prag, gelungen, Dubček zu der Reise nach Moskau zu bewegen. „Das Ganze war vertraulich“, sagte Valenta nach Dubčeks Begräbnis. „Auch jetzt gibt es hier eine Lobby, die verhindern will, daß die Wahrheit über die Intervention bekannt wird.“

Der erste eindeutige Hinweis, daß Dubček tatsächlich umgebracht worden sein könnte, kam aus dem Nachbarland Polen. Am gleichen Tag, an dem Dubček seinen Unfall hatte, wurden in der kleinen Gemeinde Anin, einem Vorort von Warschau, die Leichen des früheren polnischen Ministerpräsidenten Piotr Jaroszewicz und seiner Frau gefunden. Auch Jaroszewicz hatte im Moskauer Prozeß auftreten sollen. Alle Dokumente, mit denen er seine Aussage untermauern wollte, waren verschwunden. Die polnischen Behörden gaben später Selbstmord als Todesursache an. Sicher ist, daß beide durch Kugeln starben.

Der Unfall Alexander Dubčeks ist im Gegensatz zum Tod Jaroszewiczs vor Gericht untersucht worden. Fahrer Reznik, als Polizist im Rang eines Feldwebels stehend, wurde von einem Militärgericht in Česke Budějovice zu einem Jahr Gefängnis wegen schwerer Körperverletzung „durch unvorsichtiges Fahren“ verurteilt. Viele Fragen blieben freilich unaufgeklärt. Um das zu ändern, wird das slowakische Parlament vermutlich in der nächsten Woche einen Untersuchungsausschuß einsetzen. Dubček war Slowake, Reznik ist es ebenfalls, der Reformkommunist hatte kurz vor seinem Tod die Führung der Slowakischen Sozialdemokratischen Partei (SDSS) übernommen. Vor allem die SDSS habe ein Interesse an der Aufklärung des Unfalls. Beim Prozeß des Militärgerichtshofs habe es, so SDSS-Vorsitzender Miroslav Špejl, zuviel Einmischung von außen gegeben.

Das Gericht hat aber auch schlampig gearbeitet. Vielen Hinweisen wurde nicht nachgegangen. So lag Dubček 16 Meter von dem BMW entfernt – obwohl alle Türen geschlossen und nur das Heckfenster zerstört war. Unsicher, so Špejl, blieb sogar, wo Dubček im Auto gesessen hat: Auf dem Beifahrersitz, wie der Militärrichter befand, oder hinten, wie es Dubček später einem Besucher gesagt haben soll. Der Fahrer des Krankenwagens hatte ausgesagt, Reznik und Dubček gemeinsam weggefahren zu haben – nach anderen Quellen ist Dubček aber überhaupt erst nach 40 Minuten entdeckt worden. Dubček selbst wurde, obwohl bei Bewußtsein, wochenlang nicht vernommen; erst als sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, sollte er aussagen – aber da ließen dies die Ärzte nicht mehr zu.

Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens gegen Reznik war es, wieso Dubček nicht in derjenigen Klinik behandelt wurde, die weltweit wohl die beste Behandlung bei Verletzungen des Rückgrats geboten hätte – Rizzoli in Bologna. Ein italienischer Freund von Dubček aus eurokommunistischen Tagen, der Geschäftsmann Vittorio Caffeo, hatte die Sache bereits in die Hand genommen: Ein Ambulanz-Jet, von Caffeo bezahlt und mit einem Chirurgen und einem Internisten an Bord, wartete in den ersten Septembertagen auf dem Prager Flughafen auf die Übernahme des Schwerverletzten. Aber die Genehmigung, den Verletzten zu verlegen, blieb aus.

Ungeklärt blieb auch anderes: Beispielsweise warum die Aktentasche nicht zu den Beweismitteln genommen worden war. Dadurch dürfte es möglich geworden sein, einen Teil der darin enthaltenen Dokumente verschwinden zu lassen. Fotos der Unfallstelle sowie Zeugenaussagen – Reznik soll einer Angabe zufolge 140 Stundenkilometer schnell gefahren sein – lagen dem Gericht bei der Beweisaufnahme nicht vor; ein offizielles Gutachten kam auf eine Geschwindigkeit von 88 bis 125 Stundenkilometer. Der italienische Autofahrer, der als erster an die Unfallstelle kam und die Polizei benachrichtigte, wurde nicht registiert und konnte deshalb auch später nicht mehr als Zeuge ausfindig gemacht werden.

Noch seltsamer ist Rezniks Fahrerkarriere. So hatte Rudolf Filkus, seinerzeit Vize-Außenminister der CŠFR und heute einflußreicher Oppositionspolitiker im slowakischen Parlament, Reznik gefeuert, weil der „ein gefährlicher Fahrer“ sei. Auf einer Dienstreise in die nördliche Slowakei habe er, Filkus, „vor Angst gezittert“. Filkus lag damit nicht alleine: Kein leitender Politiker mochte sich mehr zu Reznik ins Auto setzen. Da die SDSS bei den slowakischen Parlamentswahlen vom Juni 1992 jedoch an der Fünfprozenthürde gescheitert war, verlor Dubček den Anspruch auf einen eigenen Fahrer und bekam einen aus der Fahrbereitschaft des Innenministeriums zugeteilt. Dieser Fahrer war Reznik.

In Bratislava war Reznik schon im Vorjahr ins Gerede gekommen. 1991 half er dabei, 18 Bände StB- Geheimmaterial mit Angaben über Agenten und Mitarbeiter aus einem Gebäude des Innenministeriums der ČSFR fortzuschaffen. Auftraggeber der illegalen Aktion, für die ein Einbruch notwendig war, soll der damalige slowakische Innenminister und heutige slowakische Premier Vladimir Mečiar gewesen sein. Das Verfahren gegen Reznik wurde eingestellt, ein Mittäter flüchtete in die Schweiz und erhielt dort politisches Asyl.

Und schließlich: In der realsozialistischen Tschechoslowakei war der Geheimdienst Stb bekannt dafür, unliebsame Gegner mit manipulierten Autounfällen aus dem Weg zu räumen. Reznik hatte damals nicht nur rund 20 Auszeichnungen erhalten, sondern auch ein Training absolviert, um Unfälle bei hohen Geschwindigkeiten überstehen zu können.

Die Verbindung Reznik-Mečiar liefert aber auch den Ausgangspunkt für eine zweite Interpretation der Ursachen des Unfalltodes. Waren es vielleicht nicht die Alt-Kommunisten, die Dubček beseitigen wollten, sondern die neuen slowakischen Nationalisten? Wollte der slowakische Premier einen seiner größten Gegner loswerden? Alexander Dubček und Vladimir Mečiar waren einander mehrmals in die Quere gekommen. Dubček, der sich stets gegen die Teilung der Tschechoslowakei wandte, hatte die während der Revolution im November 1989 von ihm mitgegründete und von Mečiar geleitete Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ verlassen, weil dieser immer mehr auf eine unabhängige Slowakei setzte. Bei den Juni-Wahlen 1992 kandidierten beide, Mečiar und Dubček, als Spitzenkandidaten ihrer Parteien für das Amt des slowakischen Premierministers.

Als dann aber in jenem politisch heißen Sommer 1992 die Teilung der Tschechoslowakei beschlossen wurde, war Dubček sogar als zukünftiger Staatspräsident der unabhängigen Slowakei im Gespräch. Damit wäre er Mečiar in die Quere gekommen. Denn der slowakische Premier plant seit langen das derzeit eher repräsentative Amt mit größeren Vollmachten, wie etwa in Rußland, auszustatten, und es dann selbst zu übernehmen.

Die Spekulation, Mečiar habe sich mit Dubčeks Tod einen Konkurrenten vom Halse halten können, wird gerne von slowakischen Reformkommunisten lanciert. Dagegen spricht allerdings, daß das Wahlvolk schon Mitte 1992 Dubčeks Ideen eines reformierten Sozialismus für rettungslos überholt hielt. Trotz der Popularität ihres Vorsitzenden scheiterten die Sozialdemokraten bei den Wahlen 1992 an der Fünfprozenthürde.

War der Unfall Dubčeks also doch eine Aktion des Geheimdienstes StB, um eine erneute Untersuchung der Hintergründe der „sozialistischen Bruderhilfe“ von 1968 zu verhindern? Zu befürchten ist, daß dies auch der slowakische Ausschuß nicht klären wird. Tschechien, wo der Unfall, Dubčeks Behandlung und die Gerichtsverfahren stattfanden, ist seit zweieinhalb Jahren Ausland. Die allergrößte Zahl der Zeugen kann also gar nicht vor-, sondern höchstens eingeladen werden. SDSS- Vorsitzender Špejl hofft jedoch, daß auch das tschechische Parlament einen Untersuchungsausschuß einrichten wird. Doch in Prag ist das Interesse für den Tod des Vaters des Prager Frühlings eher gering. Das reformkommunistische Kapitel der Geschichte der Tschechoslowakei ist schon lange abgeschlossen.