: Neue Atomwaffen für neue Ziele
■ Frankreichs Testserie dient der Entwicklung neuer Atomwaffen. Das Ziel heißt "Counterproliferation"
Für die Wiederaufnahme der französischen Atomwaffentests hat Präsident Jacques Chirac öffentlich vor allem einen Grund genannt: die Überprüfung von Sicherheit und Verläßlichkeit des französischen Atomwaffenarsenals auch nach dem für 1996 angekündigten „umfassenden“ Teststoppvertrag. Kernexplosionen sollen künftig durch Computersimulationen ersetzt werden. Doch zur Ausarbeitung der Simulationsprogramme sei die jetzt eröffnete Testserie auf dem Moruroa-Atoll unerläßlich.
Computersimulationsprogramme mit sämtlichen Meßdaten der bislang existierenden Atomwaffen existieren jedoch seit vielen Jahren. In Frankreich ebenso wie in anderen den anerkannten Atomwaffenstaaten USA, Rußland, China und Großbritannien. Zur Überprüfung der Atomsprengköpfe reichten diese Simulationsprogramme völlig aus.
Tatsächlich geht es bei der neuen französischen Testreihe um die Gewinnung neuer Meßdaten für die Entwicklung neuer Atomwaffensysteme. Aktuell hat Frankreich zwei neue Sprengköpfe in der Entwicklung, deren Testserie 1991 durch das von Ex-Präsident Mitterrand verfügte Moratorium unterbrochen wurde: einen Mehrfachsprengkopf für die U-Bootrakete vom Typ M-5, die im 21. Jahrhundert das Rückgrat der atomaren „Vergeltungsstreitkräfte“ Frankreichs bilden soll, und einen Sprengkopf für eine Luft-Boden- Rakete, die die substrategischen Atomstreitkräfte Frankreichs flexibler machen soll.
Die beiden neuen Atomwaffensysteme sollen über größere Reichweite und Zielgenauigkeit als ihre Vorgänger verfügen. Sie passen in das Konzept militärischer „Counterproliferation“, die in Frankreich zwar noch nicht offiziell zur Doktrin erhoben wurde, aber in der politischen und militärischen Führung immer mehr Unterstützung gewinnt. Nach diesem Konzept soll die Weiterverbreitung atomarer, chemischer und biologischer Massenvernichtungsmittel künftig durch die Drohung mit dem regional begrenzten Einsatz von Atomwaffen unterbunden werden. Im Vergleich zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation mit ihrer gegenseitigen Vernichtungsgewißheit ist die Gefahr eines Einsatzes atomarer Waffen unter dem Konzept der Counterproliferation weitaus größer.
Wegen der möglichen ökologischen Folgen der Atomtests und auch angesichts des rigiden Vorgehens französischer Sicherheitskräfte gegen Greenpeace und andere Protestler ist die Kritik an Paris zwar verständlich. Sie sollte allerdings nicht davon ablenken, daß andere Atomwaffenstaaten eine ähnliche Politik verfolgen. Noch weiter als in Frankreich ist die Doktrin „Counterproliferation“ bereits in den USA gediehen. Im Unterschied zu Frankreich verfügten die USA aber bereits über die zur Herstellung neuer Sprengköpfe benötigten Computersimulationsprogramme.
Auch im Londoner Verteidigungsministerium gewinnt das Konzept militärischer Counterproliferation zunehmende Unterstützung. In der Umsetzung ist Großbritannien allerdings vollständig auf die USA angewiesen. In Rußland sprechen sich ebenfalls führende Militärs und Politiker immer deutlicher für militärische Counterproliferation aus. Umstritten ist aber noch, ob und wie weit Moskau bei der Umsetzung mit den USA zusammenarbeiten und sich damit von Washington abhängig machen soll.
Hinter dem Vorhang internationaler Abrüstungskonferenzen, auf denen immer noch ausschließlich die politischen Instrumente zur Verhinderung von Proliferation – wie etwa der Atomwaffensperrvertrag (NPT) – betont werden, läuft real zumindest in vier der fünf anerkannten Atomwaffenstaaten längst eine gegenläufige Entwicklung. Diese Entwicklung widerspricht auch der in Artikel 6 des NPT eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zum vollständigen Abbau ihrer Arsenale. Erst auf der New Yorker NPT-Überprüfungskonferenz im Mai dieses Jahres hatten die Atomwaffenstaaten diese Verpflichtung noch einmal ausdrücklich bekräftigt – als Gegenleistung für die unbegrenzte Verlängerung des Sperrvertrages durch eine Mehrheit seiner Unterzeichnerstaaten. Mit der Politik der militärischen Counterproliferation, als deren Objekt vor allem Länder des Südens in Frage kommen, erregen die Atomwaffenstaaten zunehmend Mißtrauen.
Langfristig könnten sie mit der Vorbereitung auf militärische Counterproliferation das politische Nonproliferationsregime zerstören.
Andreas Zumach, Genf
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