: Scheitern am Alltag
■ 5 Prozent der Deutschen können nicht lesen. Heute ist Alphabetisierungstag
„Hier, würden Sie bitte das Formular ausfüllen!“ Wie ein beim Lügen ertapptes Kind weicht der Mann erschrocken zurück und stottert: „Ich habe mein Brille vergessen.“ Doch es sind nicht die Augen, die streiken. Der 30jährige kann nicht lesen und schreiben.
Nach Schätzungen der Unesco beherrschen in Deutschland trotz allgemeiner Schulpflicht rund fünf Prozent der Erwachsenen nicht das Abc. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Alphabetisierung geht von bis zu drei Prozent aus. Am Internationalen Alphabetisierungstag am 8. September wird auf das Problem aufmerksam gemacht. In Berlin lädt der Verein Lesen und Schreiben heute ab 10.30 Uhr zu einem Hoffest in den Neuköllner Herrnhuter Weg 16 ein.
„Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, haben enorme Probleme“, weiß Marie-Luise Oswald vom Verein Lesen und Schreiben. Des Schreibens nicht oder nur unzureichend mächtig, scheitern sie mitunter an den einfachsten Dingen im Alltag. Die meisten kennen zwar das Alphabet, können ihren Namen schreiben und den Sinn einfacher Texte erfassen. Die Angst, ihre Schwäche könnte erkannt werden, führt jedoch nicht selten dazu, daß vorhandene Kenntnisse nicht angewandt und verdrängt werden.
„Wenn du Analphabet bist, halten die Leute dich gleich für geistig zurückgeblieben. Auf gut deutsch gesagt: für doof.“ Daß er doof sei, hörte der 17jährige bereits in der dritten Klasse von seiner Lehrerin. Daheim wurden dem sehr unruhigen und schwierigen Kind die Geschwister als Vorbild vorgehalten. Bis heute kann der junge Mann nicht richtig lesen und schreiben.
Gefährdet sind laut Oswald insbesondere Jungen, denen Probleme wie Wohnungs- oder Lehrerwechsel oder Scheidung der Eltern stärker als Mädchen zu schaffen machen. Zwei Drittel der „Analphabeten“ sind männlich.
Nach den Erfahrungen der Expertin sind die wichtigsten Lernjahre die ersten beiden Schuljahre. Eltern sollten während dieser Zeit genau darauf achten, ob sich die Leistungen ihres Kindes verschlechtern. Das Schlimmste für Kinder sei aber, abgelehnt zu werden. Besonders viel Aufmerksamkeit brauchten Lernanfänger, wenn sie längere Zeit nicht am Unterricht teilnehmen konnten. Auch unerkannte Hör- und Sprachschwierigkeiten könnten zu Lernversagen führen. Ein „Abschieben“ dieser Kinder auf Sonderschulen hält Frau Oswald für falsch, weil die Betroffenen auch dort das Abc nicht lernen.
Der Verein Lesen und Schreiben bemüht sich seit 1982, arbeitslosen „Analphabeten“ in einem ein- bis zweijährigen Kurs das Abc beizubringen. 45 Schüler im Alter von 16 Jahren und aufwärts drücken derzeit in Berlin die Schulbank. Die Maßnahme wird vom Arbeitsamt bezahlt. Der Verein ist unter der Telefonnummer 6874081 zu erreichen. ADN
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