: Zurück ist auch einmal ganz schön
Es gilt aufzuarbeiten und nachzuholen: Moskauer Theaterproduktionen bei den Berliner Festwochen ■ Von Sabine Seifert
Der Mann hat den schönen Namen Avangarde Leontiew und spielt die Hauptrolle in Valeri Fokins Inszenierung „Hotelzimmer in der Stadt NN“, einer Bearbeitung von Gogols Roman „Die toten Seelen“. „Ich und mein Tschitschikow“, sagt Avangarde Leontiew zärtlich auf der Pressekonferenz, „wir spüren, was der Zuschauer spürt.“ Der sitzt ihm nämlich fast auf dem Schoß. Bühne und Zuschauerraum sind eins: ein detailgetreu rekonstruiertes Provinzhotelzimmer aus dem letzten Jahrhundert, zu dem auch die Zuschauer Zutritt erhalten. Die Tür geht zu – rein und raus gelangen nun bloß noch die Schauspieler und Musiker.
Regisseur Valeri Fokin ist Intendant des 1991 gegründeten Meyerhold-Zentrums der Künste in Moskau. Man versucht, junge Gruppen zu fördern, lebt von Sponsorengeldern und mit etwas Unterstützung vom Theaterverband. Ein eigenes Haus gibt es – noch – nicht. Vom Staat sei keine finanzielle Hilfe zu erwarten, erzählt der 39jährige Fokin, der mit einem ziemlich roten Polohemd bei sonst dezenter Kleidung auffällt. Seine Truppe muß für jede Aufführung eine Spielstätte anmieten.
Der letzte Moskauer Spielort war zugegeben etwas ausgefallen: die Manege am Roten Platz, die ehemalige Reithalle des Zaren, in der heutzutage Verkaufsausstellungen stattfinden. Ein Autosalon hatte dem Fokin-Ensemble einen Platz am Rande der Verkaufsfläche eingeräumt. „Den Autoverkäufern hat unsere Arbeit allerdings nicht so gut gefallen“, erzählt Fokin, „und darum hat man uns nach und nach in Richtung Ausgang geschoben.“ So kann Sponsoring bei näherer Betrachtung auch ungut enden.
„Unser Land hat so viele Massenveranstaltungen erlebt, deshalb ist in dieser Zeit das Kammerspielartige so wichtig.“ Bei diesen Worten wirkt der eher beiläufig redende Fokin fast pathetisch. Er sucht die Nähe zum Publikum, die leisen Töne, das Atmosphärische. Er versucht, nach innen zu horchen, szenisch-musikalische Stimmungsbilder zu erzeugen, in denen Musik, Sprache und Bilder ineinander verwoben sind. Entsprechend sind im „Hotelzimmer in der Stadt NN“ die Laute der Außenwelt in die musikalische Komposition (Alexander Bakschi) eingeflochten: Jemand pinkelt in einen Eimer, ein Frauenlachen ertönt. Was Tschitschikow denkt und fühlt oder träumt, wird sichtbar. Die toten Seelen, die er so eifrig in betrügerischer Absicht aufgekauft und verpfändet hat, entern seine Träume von baldiger Hochzeit und Familienidyll. Die schönen Träume gerinnen zu Alpträumen.
Der Mann mit dem hübschen Vornamen tänzelt bei der Rasur vorm Spiegel, zwirbelt die schüttere Strähne am Kopf zur Locke, übt Posen und Floskeln, wirft sich in Schale und sieht sich bereits als Mann von Welt. Dann kommt er ernüchtert, aber keineswegs nüchtern vom Ball zurück, läßt sich lange schwankend gehen und fallen. Avangarde Leontiews Spiel ist konzentriert, dicht, sehenswert; Die Aufführung ist liebevoll gemacht, aber mir gerät sie mit ihrem Hang zum Lautmalerischen und Bildlichen manchmal ein bißchen in die Nähe zum Kitsch, erscheint mir in ihrem Bemühen um historische (die Zeit und das Zimmer) und psychologische (ich und mein Tschitschikow) Rekonstruktion ein bißchen ins Folkloristische abzugleiten.
„Alles Neue ist besser als das Alte“, scherzte Valeri Fokin auf der Pressekonferenz. Das Neue ist – für uns nichts Neues. Und manchmal ist das Neue eben das Alte. Schließlich gilt es nachzuholen, aufzuarbeiten, die russische Avantgarde bietet jede Menge Stoff und Stücke. Die Berliner Festwochen haben diesmal mit insgesamt 27 Gastspielen, Ko- und Berliner Produktionen ein gewaltiges Theaterangebot aufgefahren, das bis in den Oktober reicht.
Darunter sind verschiedene Uraufführungen – etwa von Alexej Schipenkos neuestem Stück „Last Russian Play“ – geplant, aber auch Neubearbeitungen und nachgeholte Ur- und Erstaufführungen der ins Abseits geratenen Avantgarde: mit Texten von Alexander Blok, Alexander Vvedenski, Alexander Sepljarskij, um nur die zu nennen, die auf den schönen Vornamen Alexander hörten.
Auch für Pjotr Fomenko, der mit seinen 62 Jahren einer anderen Regiegeneration als Valeri Fokin angehört, ist das Alte das Neue. Nicht minder pathetisch als sein Kollege sagt er auf einer Pressekonferenz: „Für jeden Menschen ist der Weg nach vorn der Weg ins Grab. Zurück ist auch schön. Wir sind lange genug vorwärts gelaufen.“ In dem fensterlosen Raum des alternativen Kulturzentrums Tacheles mit seinen schwarz getünchten Wänden machen sich Pjotr Fomenko und seine Leute mit ihren dunklen Rollkragenpullovern, Jeans und Parkajacken weit besser als der adrett gekleidete Torsten Maß von der Festwochen- Leitung. „Ich bin ein Eklektiker“, sagt Fomenko von sich, er suche sich durch alle Stilrichtungen der Geschichte. Ihm ist es gelungen, in loser Anbindung an die Moskauer Theaterakademie GITIS mit seinen Studenten eine kontinuierliche Studiengruppe oder auch Meisterklasse aufzubauen.
Aber auch das Studio Fomenko hat keine eigenen Räume und vagabundiert (viel im Ausland), auch hier sucht man die übliche Trennung zwischen Bühne und Publikum zu verkehren, sucht das Kammerspiel, die Poesie. Nur etwa 30 Zuschauer verträgt Marina Zwetajewas „Abenteuer“ – eine versponnene Hommage an den Abenteurer Casanova aus dem Jahr 1919, für die Bühne erobert von Iwan Popowski, einem Schüler von Pjotr Fomenko. Die Zuschauer werden in einen schlauchartigen Raum geführt, wo sie jeweils zu dritt in einer Reihe Platz finden. Die Bühne ist lediglich die Fortsetzung dieses Schlauchs, ein langer Gang, durch den die Schauspieler sich wie in einem höfischen Reigen von hinten nach vorne bewegen, zur Seite abtreten und sich der Prozession von hinten wieder anschließen.
Ein rhythmischer Fluß der Bewegungen. Die Verse werden mehr gesungen als gesprochen, die Gestik ist fast maniriert. Kaleidoskopartig wechseln die kurzen Szenen des romantischen Versdramas, in dem der junge Casanova einer jungen geheimnisvollen Frau verfällt, die auch in Männerkleidern auftritt: Henri-Henriette. Überlebensgroß erscheint der Schatten des Liebespaares hinter einer Gazewand, nun fällt das Licht nach vorne in den Zuschauerraum – die Bühne als Kameraauge, das den Blick des Voyeurs, des Zuschauers einfängt und irritiert. Ein originelles Schlußbild dieser romantisierenden Inszenierung, die mich persönlich eher kalt ließ. Schon weil es vorab zur Einstimmung Klaviermusik, rote Äpfel und Kerzenlicht gab.
Pjotr Fomenkos Inszenierung „Das Abenteuer“ ist noch bis 12. September im Tacheles, Berlin- Mitte zu sehen. Vom 15. bis 18. September gastiert Fomenko mit einer eigenen Inszenierung von Ostrowskis „Wölfe und Schafe“ im Ballhaus Rixdorf, Berlin-Neukölln
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