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Das Leben mit der Angst ums Leben

Nach sechs Bombenanschlägen in sechs Wochen geht in Frankreich die Angst um: Jeder kann getroffen werden – und jeder wird zum Hilfspolizisten, der Schwarze verdächtigt  ■ Aus Paris Rudolf Balmer

Bei der Explosion einer Bombe wurden am Donnerstag vor einer jüdischen Schule in Villeurbanne, einem Vorort von Lyon, 14 Personen verletzt. Bei der Bombe, die in einem Pkw versteckt war, soll es sich, wie bei früheren Attentaten in Paris, um eine mit Sprengstoff, Nägeln und Bolzen gefüllte Campinggasflasche gehandelt haben. Offenbar nur durch einen Fehler der Attentäter kam es nicht zu einem Massaker: Zum Zeitpunkt der Explosion waren die Schulkinder noch in den Klassenzimmern – nur an dieser Privatschule endet der Unterricht erst um 16.45 Uhr und nicht – wie in allen Staatsschulen – eine Viertelstunde früher.

Die Presse und die Öffentlichkeit reagierten geschockt auf den Anschlag. Aber neben großer Empörung ist zwischen den Zeilen auch Ungeduld herauszulesen. Waren die Vorkehrungen ausreichend, könnte nicht mehr getan werden? In der Bevölkerung macht sich nun doch Angst breit vor dieser unheimlichen Bedrohung. Die Gleichgültigkeit, die die meisten zur Schau tragen, ist nur gespielt.

Seit dem ersten, mörderischen Bombenanschlag zerbröckeln beruhigende Gewißheiten. Zuerst bestand die Hoffnung, es handele sich um eine einmalige Aktion. Nach der zweiten Explosion versuchten sich viele einzureden, es reiche, die touristischen Anziehungspunkte und den Hochgeschwindigkeitszug TGV zu meiden, um verschont zu bleiben. Mit der Detonation auf einem Straßenmarkt im 11. Arrondissement und der Entschärfung einer Sprengladung in einer öffentlichen Toilette im 15. Stadtbezirk, das heißt in zwei einfachen Wohnquartieren, und nun diesem Attentat in einem banalen Vorort von Lyon ist dem Durchschnittsbürger klargeworden, daß es jeden jederzeit und an jedem öffentlichen Ort treffen könnte. Das ist das Leben mit der Angst ums Leben.

Über jedes Warenhaus und jede Schule ist der Belagerungszustand verhängt. Der Krisenstab, dem Premierminister Alain Juppé selbst vorsitzt, hat beschlossen, daß auch die Armee für die Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen eingesetzt werden kann.

Klassenausflüge werden abgesagt, vor den Schuleingängen dürfen sich keine Menschentrauben bilden, Eltern dürfen die Schulen nur noch in Ausnahmefällen betreten. Die Maßnahmen sind akzeptiert. Niemand reklamiert, wenn Taschen und Tüten durchsucht werden. Stoisch vernimmt man die sich endlos wiederholenden Warnungen in den Metroschächten, jedes verdächtige Paket sofort den Angestellten zu melden. Gewöhnliche Dinge werden plötzlich zu tödlichen Gefahren: Abfallkörbe, Plastiksäcke, Campinggasflaschen oder ein Schnellkochtopf. Mißtrauen nistet sich ein. Denn so wie vertraute Alltagsgegenstände zur Bedrohung werden können, sind auch die Mitbewohner der Hauptstadt potentielle Verdächtige geworden. In den öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Argwohn dem Menschen an den Augen abzulesen. Da algerische Islamisten als mögliche Urheber gelten, sind es vor allem die Nordafrikaner, die mit skeptischen Blicken gemustert werden. Der Terrorismus macht blind. Er droht nicht minder irrationale Lynchreaktionen zu provozieren. Die dunkle Haut wird zum Verdachtsmoment bei den Identitätskontrollen. Woran sollen sich die Polizisten halten, die keine weiteren Anhaltspunkte haben?

Menschen dunkler Hautfarbe sehen sich gezwungen, sich abzugrenzen und ihre Unschuld zu beteuern. Die daraus resultierende rassistische Diskriminierung ist die bittere Folge des Terrors. Der mit soviel Mühen zugeschüttete ethnische Graben bricht auf, und verdrängte Emotionen aus dem Kolonialkrieg kommen an die Oberfläche.

Der Schock ist für diese Gesellschaft um so größer, weil nichts sie darauf vorbereitet hat, zum Schauplatz und zur Zielscheibe dieses Terrorismus zu werden. Noch versucht Paris den Schein und die Form zu wahren. Die Behörden wollen sich nicht in die Rolle totalitärer Ordnungshüter drängen lassen. Doch dies ist vielleicht nur eine Frage der Eskalation.

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