: Eine kurze Verschnaufpause im Gefecht
Die Fronten verlaufen nicht allein zwischen Steinfassaden und transparenten Stahl-Glas-Konstruktionen: „Einfach schwierig“, ein Sammelband zur berlinischen Architektur, analysiert die aktuelle Debatte über Stadt und Baukunst ■ Von Wolfgang Kil
Unter dem Titel „Die Provokation des Alltäglichen“ hatte Vittorio M. Lampugnani, damals noch Direktor des Frankfurter Architekturmuseums, im Dezember 1993 eine Polemik im Spiegel veröffentlicht, die eine überraschend heftige Auseinandersetzung zwischen Architekten und Kritikern auslöste. Lampugnani hatte vorgeschlagen, die Vielzahl der unterschiedlichen und diffizilen Baustile von Postmodernismus bis Dekonstruktion durch einen verbindlichen Stil der „Neuen Einfachheit“ zu ersetzen.
Quer durch die überregionalen Feuilletons zog sich eine Kette von Behauptungen und Gegenreden, Anschuldigungen und Unterstellungen, deren Ton immer rauher und unversöhnlicher wurde. Erst ging es um eine „Neue Einfachheit“ in der Baukultur, dann um „Tektonik in der Baukunst“ als Glaubensstreit zwischen Steinfassaden und Stahl-Glas-Konstruktionen. Schließlich rückte die „berlinische Architektur“, genauer: Hans Stimmanns unbeirrbar propagierte Linie einer „kritischen Rekonstruktion“ mittels steinerner Blockstrukturen, ins Visier der Diskutanten. Dann war der erbitterten Kontroverse vor gut einem Dreivierteljahr die Luft ausgegangen. Irgendwie hatte jeder Seins gesagt.
Nun liegt von Gert Kähler unter dem Titel „Einfach schwierig“ eine Textsammlung dieses Schlagabtausches vor. Heißt das, die Debatte ist beendet und als solche bereits historisch? Man kann nur hoffen und vermuten: nein. Denn erstens macht gerade diese Zwischenbilanz auf Aspekte aufmerksam, die noch immer unbesprochen im Raum verblieben sind. Und zweitens hat nicht einmal der Herausgeber der Textsammlung den nötigen Abstand, um eine wirkliche Dokumentation zustande zu bringen: Kählers Auswahl der verstreut publizierten Beiträge ist zu eng gefaßt, um den ganzen Bogen des Disputes historisch getreu nachvollziehbar zu machen.
Sogar auf exakte Chronologie hat er verzichtet und dafür die einzelnen Wortmeldungen nach einem selbstgesetzten Schema gruppiert. Folgt man diesem, so arbeiteten sich die Kontrahenten (neben Wolfgang Pehnt, Daniel Libeskind und Heinrich Klotz vor allem die Berliner Fritz Neumeyer, Dieter Hoffman-Axthelm und Rudolf Stegers) zuerst ausschließlich an Lampugnanis Thesen ab, um sich anschließend in breiter Front mit dem Architekten Hans Kollhoff anzulegen, der als personelle Verkörperung der Lampugnani unterstellten „reaktionären Ideologie“ herhalten muß.
Solche interpretierenden Eingriffe stehen einer redlichen Chronistenrolle eigentlich entgegen, doch seien sie in diesem Fall dem Herausgeber nachgesehen: Auch er steckt innerlich noch mitten im Gefecht, sein Buch ist – bei genauerem Hinsehen – seine eigene Wortmeldung zum Thema.
Hat man diese „Freizügigkeit“ einmal gebilligt, macht es durchaus Sinn, die Debatte unter Kählers Blickwinkel noch einmal Revue passieren zu lassen. Offenbar hat hier ein diffuses kulturelles Unbehagen ziemlich spontan (und also unsortiert) auf den komplexen Epochenumbruch unserer Tage reagiert – nervös, verunsichert, trotzig. Insbesondere der „Streit um den Stil“, jene kapriziöse Beckmesserei zwischen Stein- und High-Tech-Fassaden, erwies sich rasch als durchsichtiges Medium für die darunter lauernden Existenzfragen, für die immer drängender zu Tage tretenden Modernisierungskonflikte: Globalisierung der Ökonomie, Privatisierung der Stadt, Auflösung der bürgerlichen Öffentlichkeit, soziale Polarisierung der Gesellschaft, Verlust der geopolitischen Orientierung, konservative Geschichtsrevision; parallel dazu die Verflüchtigung des traditionellen Architekturbegriffs in Entertainment, Künstlerallüren und Kommerz.
Man muß Lampugnanis Positionen nicht teilen, um das Verdienst seines Eröffnungspamphlets trotzdem zu würdigen. In ihm steckt ein Potential an nachhaltiger Provokation, das vermutlich weit über seine eigenen, vorwiegend bildungsbürgerlichen Ambitionen hinausreicht. Man braucht auch Berlin nicht zu lieben, um trotzdem zu verstehen, daß sich die Debatte ganz schnell an dieser Stadt festbeißen mußte. Das hat nur zum Teil mit dem „interessanten Markt“ (Kähler) zu tun, der sich hier für Architekten aus aller Welt bietet; viel eher dürfte es an der ziemlich einmaligen Laborsituation liegen, an diesem vermeintlichen (und tatsächlichen) Experimentierfeld der Crashmodernisierung mitten im alten Europa. Daß der Streit schließlich als „Berliner Architekturdebatte“ ausgefochten wurde, brachte mit der obligatorischen Warnung vor NS-Vorbildern eine erhebliche Ideologisierung ins Spiel. In Deutschland ist eben auch die technokratischste Modernisierung nicht ideologiefrei zu haben.
Auf solche Verengungen und andere „blinde Flecken“ der sehr deutsch (das heißt auch: sehr nachtragend) geführten Diskussion haben die ausländischen Beiträge hingewiesen, die Gerd Kähler dankenswerterweise hinzugezogen hat. Völlig unverständlich allerdings bleibt, was am Schluß dieser Textsammlung ein Originalaufsatz von Florian Rötzer über „Virtuelle Städte“ zu suchen hat. Da wird über „die Auflösung des urbanen Lebens in den Datennetzen“ schwadroniert und über einen endlos monotonen, aber total verkabelten Siedlungsbrei, während „die Reste der alten Städte zu schwarzen Löchern“ verkümmern für „die wachsende Schicht jener, die von der Dynamik und dem Reichtum der postindustriellen Informationsgesellschaft ausgeschlossen sind und auf der Erde herumirren“.
So denken Menschen, bei denen der Strom aus der Steckdose kommt und die Putzfrau aus Ljubljana. Diese grelle und oberflächliche Apologie des Zeitgeistes, eine Art Moderne mit anderen Mitteln, läßt uns leider darüber im unklaren, ob sie Verheißung oder Menetekel sein will – so kann man sich nicht einmal ernsthaft mit ihr auseinandersetzen, nur ärgern. Es muß allerdings bedenklich stimmen, daß es allein die Vertreter explizit konservativer Positionen (Hans Kollhoff oder Fritz Neumeyer) sind, die sich dem Zukunftsbild einer achselzuckenden Entropie und Weltbürgerkrieg einkalkulierenden Selbstlaufmodernisierung verweigern – wenn auch auf ihre Weise.
Mit seinem eigenen Textbeitrag versucht Kähler, die Debatte nicht nur zu analysieren, sondern ihr auch aus der offenbaren Sackgasse herauszuhelfen. So geht er Gedanken vor allem von Ernst Hubeli und Christoph Luchsinger (Zürich) nach, die zwischen einer „Einfachheit als Wahlentscheidung im Luxus“, (also elitärer Askese) und „erzwungener Einfachheit“ (also Armut) unterscheiden. Mit dieser Differenzierung im Begriff erhält der von Lampugnani vordergründig ästhetisch konturierte Diskurs seine notwendige soziale Dimension zurück.
Der wohl entscheidende Schmerzpunkt wird allerdings berührt, wenn Kähler als Grund für die Heftigkeit des Streitens „unser aller schlechtes Gewissen“ vermutet: „Wir wissen ja schließlich, daß die Industrieländer auf Kosten der Länder der Dritten Welt leben, daß die Bedrohung für unseren Planeten durch uns entsteht. Dagegen konkret etwas zu tun ist schwierig und grundsätzlich mit Verzicht verbunden. Jetzt kommt da einer und empfiehlt angesichts dieser Situation eine neue Bescheidenheit. Zwangsläufig reagiert man darauf zunächst mit einem schroffen ,Nein‘, weil es an unsere Bequemlichkeit geht. Daß dieses ,Nein' fachlich begründet wird, muß so sein, weil unsere moralische Position unhaltbar ist.“
Nur Dietmar Steiner (Wien) wird noch deutlicher: „Wir, die ,blinden Kritiker‘, erlauben uns anzumerken, daß eine urbane europäische Wirklichkeit existiert, die apokalyptische Visionen einer ,Zitadellenkultur‘ mit ständigem Bandenkrieg als greifbare Wirklichkeit abbildet. Wir warten auf architektonische Antworten, die sich vom ästhetischen Glasperlenspiel herabbewegen auf die Ebene der tatsächlichen sozialen, urbanen und ökologischen Konflikte.“ Aber auch davon, nur etwas anders pointiert, war schon in Lampugnanis Spiegel-Pamphlet die Rede. Was also spricht gegen eine nächste Streitrunde?
Gert Kähler (Hrsg.): „Einfach schwierig. Eine deutsche Architekturdebatte. Ausgewählte Beiträge 1993–1995 (Bauwelt-Fundamente 104)“. Vieweg Verlag, 36 DM
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