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Rübezahl mit Hirschgeweih

Am Ostausläufer des polnischen Riesengebirges, wenige Schritte von der tschechischen und keine hundert Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, entsteht ein „Haus der drei Kulturen“  ■ Aus Parada Detlef Krell

Ein Traktor tuckert mit der letzten Fuhre Heu über den Hof. Großmutter deckt vor dem Haus den Tisch. Pferd und Kuh tauschen die Schattenplätze. Die Tür zum Dorfladen steht offen. Alle Hunde bellen. Außer ihnen scheint sich über diese Fremden, die aus dem letzten Bus steigen, niemand zu wundern. Der hagere Alte auf der Bank ahnt wohl, wonach er gleich gefragt werden wird: „Parada? Ja, bitte; prosto, geradeaus. Bis zum Ende.“

Parada liegt den Wolken ein Stück näher; ein beschwerlicher Fußweg ist es bis zu dem höchstgelegenen der vierzig Gehöfte von Niedamirow. Am geöffneten Tor ruht ein geflügelter Hirsch, ein Kunstobjekt aus Stoff und Baumteilen. Dahinter ein ziegelrotes Bauernhaus, ein freistehender Feldsteingiebel, die Scheune. Zwei Jahre hatte der Bauernhof leer gestanden, bevor Beata Justa und Grzegorz Potoczak ihn 1991 nach langem Suchen entdeckten. Am Ostausläufer des polnischen Riesengebirges, wenige Schritte von der tschechischen Grenze und keine hundert Kilometer von der deutschen entfernt: hier soll es entstehen, das „Haus der drei Kulturen“.

Beata und Grzegorz sind heimgekehrt ins Riesengebirge. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit im nahen Kamienna Gora. Beide studierten in Wroclaw, sie Kunst, er Geschichte. Dem Militärdienst entzog sich Grzegorz durch ein Studium in Hamburg. Beata ging mit ihm an die Elbe, sie studierte an der Freien Kunstschule. „Wir waren mit einem vorgefertigtem Bild nach Deutschland gekommen,“ sagt Grzegorz, „bald merkten wir, wie groß unsere Unkenntnis war.“ Heute weiß er: „Deutschland ist ein Teil unseres Lebens. Die Probleme dieses Landes sind auch unsere.“

Im „Haus der drei Kulturen“ sollen sich Polen, Deutsche und Tschechen näherkommen. Bisher, erläutert der angehende Historiker, dominieren nur Extreme das Nebeneinander der drei Völker: „Einerseits diskutieren Adam Michnik und Jürgen Habermas in der Zeit, und andererseits treffen sich polnische Autoschieber mit deutschen Billigmarktbesuchern. Es fehlt die Mitte, der Alltag der Menschen.“ Es fehlt ein Ort, wo das Wohlstandsgefälle nicht präsent ist, aber der politische und historische Hintergrund nicht ausgeblendet wird.

Als erstes Parada-Fest feierten Beata Justa und Grzegorz Potoczak im letzten Jahr ihre Hochzeit. Seitdem erlebt Niedamirow einen Hauch Europa. Die Schwalben in der Scheune hörten nächtelang polnischen Rock, Jazz von der Elbe und Blues aus Prag. Die Freie Theatergruppe aus Kamienna Gora spendierte ihren „Sozialistisch-surrealistischen Cocktail“, Texte aus dem Polen der fünfziger Jahre. Unter den Zuschauern war der Theaterjugendklub aus Zittau; dieser ersten Begegnung folgten bald gemeinsame Auftritte in beiden Städten und in Hamburg.

Dann wurde in diesem Sommer ein Keramik-Brennfest im „Haus der drei Kulturen“ gefeiert; afrikanische Musiker traten dabei auf, MalerInnen aus den drei Ländern waren zu Gast. Nach Parada kommen immer wieder Leute, denen andere von dem Ort im Riesengebirge erzählt haben, die bringen wieder Freunde mit. Auf der deutschen Seite des Dreiländerecks, in Großhennersdorf bei Zittau, wird am übernächsten Wochenende ein ähnlich konzipiertes Begegnungszentrum eröffnet. Seit Beata und Grzegorz dort zu Besuch waren, haben sie nicht mehr nur in Hamburg deutsche Mitstreier, sondern auch gleich um die Ecke.

Die meisten deutschen Parada- Besucher und viele der tschechischen erleben so Polen zum ersten Mal. Zwei Fördervereine in Hamburg und Kamienna Gora begleiten das Projekt. Im nächsten Jahr wollen Beata und Grzegorz ganz nach Parada umziehen. Ihr Kind wird in Hamburg zur Welt kommen und in Parada laufen lernen. Diesen Winter aber wird der Hof noch einmal leer stehen.

Beatas Eltern waren in den sechziger Jahren ins Riesengebirge gekommen; Grzegorz' Familie wurde gleich nach Kriegsende aus dem polnischen Osten, dem heutigen Belorußland, hierher vertrieben. „Wir sind aufgewachsen mit dem Gefühl, ohne Wurzeln zu sein, ohne Tradition, ohne all das, was dazugehört, wenn in einem Haus Generationen gelebt haben.“ In Kamienna Gora und noch in Wroclaw glaubte Beata, sie könnte „überall in Europa wohnen, ohne Anker“. Doch in Hamburg machten sie und Grzegorz die Erfahrung, „daß wir dieser Landschaft hier verbunden sind. Wir wollen hier im Riesengebirge leben, aber nicht mehr ohne Deutsche und Tschechen.“

Die junge Polin spricht vom „sogenannten Europa“, wenn sie Europa in den westlich definierten Grenzen meint. Das Riesengebirge ist die über Jahrhunderte durch die Nachbarschaft dreier Kulturkreise geprägte Mitte des alten Kontinents. Die gemeinsamen Wurzeln sind gekappt worden, in Parada sollen sie wieder neu austreiben.

„Deutsche lebten hier bis 1946, da waren schon polnische Familien angekommen. Einige haben über Monate zusammengewohnt“, die aus dem Osten hierher Vertriebenen mit denen, die nach Westen vertrieben werden sollten. „Dabei haben sich Geschichten abgespielt, über die bis heute kaum gesprochen wird.“ Zögernd nach dem langen Schweigen hätten nun einige Nachbarsleute von ihren Erlebnissen erzählt, von marodierenden sowjetischen Soldaten und polnischer Miliz, von den bewaffneten Sudetendeutschen, die sich im Gebirge verschanzt hatten, aber auch von einer „Solidarität der Entrechteten“, davon, wie polnische und deutsche Vertriebene einander geholfen hatten.

Eine Ansichtskarte von 1928 zeigt das damalige Kunzendorf. Bis an den Bergkamm heran, der Grenze nach Böhmen, standen neben dem nun wiederbelebten Gehöft noch zwölf weitere Bauernhöfe. Geblieben sind von ihnen nur Ruinen.

Die Erinnerungen an den Ausbau von Parada füllen dicke Fotoalben. Zbigniew Justa, Beatas Vater, als Bauleiter vornweg, Bauern und Handwerker aus dem Dorf, mit schwerem Gerät; immer wieder Gäste, Feste und Feiern. „Parada soll keine Insel werden. Wir möchten in diesem Dorf und mit diesen Menschen hier leben.“ 120 EinwohnerInnen hat Niedamirow; in diesem Bergdorf leben viel mehr junge Menschen als in vergleichbaren deutschen Orten. Die meisten sind arbeitslose Bauern.

„Wer täglich um die Existenz kämpfen muß und dann sieht, was wir hier veranstalten, wird zunächst denken, wir wären Verrückte. Das kann ich mir gut vorstellen.“ Doch der verrückte Hof bringt wieder Arbeit nach Niedamirow. „Wir bestellen immer beim Dorfladen, kaufen die Milch beim Bauern, und wenn Essen zu kochen ist, machen das Frauen aus dem Dorf.“

Zuerst kamen die Kinder zu Veranstaltungen, Jugendliche folgten, junge Eltern; inzwischen sind auch manche Ältere neugierig geworden und gesprächig.

„Bis vor kurzem kannten sie im Dorf keine Tschechen. Früher sind die Deutschen tagtäglich über die Grenze gegangen, zur Arbeit ins Bergwerk oder in die Kneipe. 1946 wurde die Grenze geschlossen. Seitdem zu uns viele TschechInnen kommen“, freut sich Beata, „gibt es Freundschaften auch zu den Dörflern. Die bemühen sich nun, tschechisch zu sprechen. Und die Vorn: Beata Justa und Grzegorz Potoczak; hinten: Rübezahl mit Keule und HolzpantinenFoto: Lothar Sprenger

Vorteile der einen gegen die anderen – sie beginnen zu bröckeln.“

Beata Justa hat ein Wort gefunden, mit dem sie ihr künstlerisches Selbstverständnis beschreiben kann: „Mal-Gärtnerin“ oder polnisch: „MalOgrodniczka“. Auf dem Wiesenhang hinterm Haus installierte sie mit Freunden das Objekt „Hirsch-Grün-Flug“, Konturen des grünen Schattens eines fliegenden Hirschs, ohne Marktwert, nur aus der Distanz zu betrachten. Vom Hügel gegenüber vielleicht, wo damals einige junge Tschechen standen und wieder dieses Wort sagten, das Beata erstmals in einer Prager Kneipe gehört hatte: „parada“, der „himmlische“ Ort. Auf Polnisch bedeutet „parada“, wenn Kinder gemeinsam „umherziehen“ oder Gaukler. Nur im Deutschen trägt das Wort Militäruniform. Im Spanischen bedeutet es „Station“.

Als kurz darauf wieder TschechInnen von „parada“ schwärmten, war das wie eine Taufe für diesen Ort. Parada, das klinge nach Paradies, sagt Beata und sei auch so gemeint, ganz sachlich. Eine Wegstunde hinter diesem „Ende der Welt und Tor zum Paradies“ liegt der Wald tot, ein Nagelbrett. In seiner versteckten Lage am Kamm wurde Niedamirow von dem säureverseuchten Wind verschont, der die höhergelegene Vegetation des Riesengebirges vernichtet hat.

Ihren geflügelten Hirsch, der seinen Abdruck in dieser Landschaft hinterläßt, versteht Beata Justa als ein Gleichnis für Mensch und Natur. Wie die Legenden vom Rübezahl, dem Berggeist.

Der soll für den rasanten Witterungsumschwung im Riesengebirge verantwortlich sein. So wie jetzt. Gerade waren am Himmel noch fahlweiße Wolken, plötzlich verdüstert sich der Horizont, als ob jemand an einem Dimmschalter gedreht hätte. Sieben Tropfen fallen zur Warnung. Dann öffnen sich alle Schleusen. Ein Gewitter rollt heran wie eine Lawine; es wird noch grollend durch die Täler wandern, wenn hier oben längst wieder die Sonne scheint. „Für mich“, gesteht Beata, „lebt dieser Berggeist.“ Sie nennt ihn nicht bei seinem Spottnamen Rübezahl, den er sich, wie die Legende erzählt, in unglücklicher Liebe zugezogen hat. „Ich sage: Pan Karkonosz“, Herr des Riesengebirges. „Rübezahl ist in der deutschen Kultur verwurzelt, aber ich meine, ihm ist egal, wer in seinem Gebirge lebt. Ich habe mal gelesen, das Beste, was die Deutschen von hier mitgenommen haben, sei Rübezahl. Das stimmt nicht. Ich will zeigen, daß diese Berge Geist haben – unabhängig von Mensch, Geschichte und Politik.“

Moritz von Schwind zeichnete den Berggeist als rauschebärtigen Riesen mit Keule und Holzpantinen. Beata Justa geht in ihren Bildern zurück auf die erste kartographische Darstellung des Riesengebirges, von 1561. Dort geistert der „Rübenczal“ durch sein Reich, bocksbeinig, mit Hirschgeweih und Wanderstab. Die slawische Schreibweise „cz“ sagt etwas aus über die multikulturelle Geschichte dieser mitteleuropäischen Region.

Rübezahl kennt Grenzen nicht, doch den BesucherInnen von Parada bleibt die phantastische Fernsicht vom Kammweg auf die Schneekoppe durch Verbotsschilder verwehrt. Der Chef der örtlichen Grenzschutzstelle ist dem Projekt Parada zwar freundlich gesinnt, doch nimmt er den Auftrag ernst: „Passieren verboten!“

Seit Jahren bemühen sich Menschen auf beiden Seiten um die Wiedereröffnung der Übergänge. Deshalb wird das nächste Parada- Festival entlang dieses von Verbotsschildern gesäumten Kammweges gefeiert. „Die Grenze wird sich mitten durch das Fest ziehen. Wenn sie überhaupt zu bemerken ist.“

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