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Jenseits des Endspiels

„Zeichen eines Schockes“ – die neueste Produktion des RA.M.M.-Theaters im E-Werk  ■ Von Petra Kohse

Schon um neun Uhr abends standen sie letzten Freitag vor dem Eingang zum E- Werk Schlange. Sie ließen sich von den Türstehern in die Taschen schauen, kletterten hinab in die sogenannte Evidence-Hall, die aussieht wie ein leeres Schwimmbassin, tranken irgend etwas für fünf Mark und harrten über eine Stunde lang der Dinge, die da kommen würden, bei Laune gehalten von einer dezenten Lichtshow und gemäßigtem Techno-Sound.

Sicher gehörten einige Gewohnheits-Raver und -Raverinnen zum Publikum – die Eintrittskarte für 25 Mark berechtigt später schließlich auch zum Besuch der E-Werk-Party –, doch nicht wenige haben die Auffahrt zur Wilhelmstraße 42 wohl erst auf den zweiten Blick gefunden. Besuchen Sie das E-Werk, solange das noch geht? Nein, Theaterfans!

Mehrere hundert Leute, die gezielt hierhergekommen sind, um RA.M.M. zu sehen – RA.M.M., die wohl renommierteste Berliner Aktionstheatergruppe um den Niederländer Arthur Kuggeleyn, die sich vor drei Jahren im Mecklenburgischen das Schloß Bröllin zur „Produktions- und Forschungsstätte“ ausgebaut hat und jetzt für drei Wochenenden mit einer neuen – senatsgeförderten – Produktion wieder in der Stadt ist.

„Ich habe Daniel lieb“ steht auf der hinteren Betonwand des Beckens in der Evidence-Hall. Daneben führt eine Treppe zu einer Galerie, auf der mehrere alte Bildschirme flimmern. Später zeigen sie die immer gleichen Schwarzweißausschnitte von Fernsehshows und Kußszenen aus alten Filmen, in Farbe läßt sich eine Ratte in einem Käfig beobachten.

Allmählich verdichten sich Lasershow und Nebel, ein Weißbekittelter läuft beschäftigt durchs Bassin, setzt sich in eine Seilschlinge, zieht sich rauf und runter, und es herrscht eine merkwürdig irre Stimmung: Aus dem Off leiert jemand Alltagssätze wie „Der Aschenbecher, wo kann ich einen Aschenbecher kaufen?“, Kinder rennen herum, Mitbesucher heben ihre Flaschen zum Gruß, und man bekommt Lust, seinen Nachbarn plötzlich mit einem Vampirlächeln zu überraschen.

Oben auf der Galerie versuchen weitere Weißkittel, mit Engelsflügeln auf dem Rücken graziös zu wirken. Aber natürlich können sie nicht fliegen. Deswegen haben sie ein Raumschiff gebaut, eine Art Stehauf-Bühne, die über den Köpfen der Zuschauer hinweg ins Becken hinabgleitet. Der Raumschiff- Fahrer fuchtelt mit seinem fleischwurstartigen Riesenpimmel herum, doch er interessiert nicht weiter. Statt dessen richtet sich alle Aufmerksamkeit auf vier Tonnen und ihre Bewohner.

Vier Jahrzehnte nachdem Beckett in seinem „Endspiel“ zwei Alte in Mülltonnen dahinvegetieren ließ, auferstehen daraus – zeitgemäß verjüngt und dupliziert – zwei Männer und zwei Frauen. Die Männer tragen Raumfahreranzüge, unterhalten sich über die Möglichkeit außerirdischen Lebens und werden auf überdimensionierte Drehstühle gesetzt. Die Frauen sagen nichts und stecken in Lederbandagen, mit denen sie an ein Drahtseil gehängt werden.

Ob die Männer mit bis zu 80 Umdrehungen pro Minute herumsausen oder die Frauen auf dem Raumschiff angebunden werden und sich mit Blinkleuchten auf der Brust wie Hunde an der Kette gebärden: sie sind völlig planlos, auf Geheiß gleichwohl motorisch aktiv – und kommen nicht vom Fleck. Aus dem Endspiel ist eine Endlosschleife geworden, die zivilisationskritischen Thesen liegen offen: Paul Virilio warnt vor dem Entwicklungsstillstand bei Hochgeschwindigkeit, und die ganze Menschheit wird zur Patientenschaft erklärt, wenn aus einem DDR-Rotkreuz-Buch zum Thema „Zeichen eines Schockes“ vorgelesen wird: „Unruhe und Angst oder auch Verwirrtheit und Teilnahmslosigkeit... schneller Puls, eventuell auch verlangsamt...“

Indes, dies hier ist Theater, ist dreidimensional, findet in Echtzeit und zum Anfassen statt und vergrößert sinnfällig eine beliebige Sequenz des Alltags. Man muß die Gesichter der Frauen sehen, die am Drahtseil zappeln, muß hören, wie die Männer rotieren und dabei sprechen, muß zusehen, wie sich die Weißkittel, Brettern gleich, gegenseitig zum Raumschiff tragen und sich zum Winken aufstellen, als dieses – mit den Frauen an Bord – wieder abhebt. Dies ist ein Raum-Ton-Körper-Text-Maschinen-Konzept, das handwerklich und als Kunst überzeugt.

Als vor einem Jahr die Katalanen La Fura dels Baus (seit langem das Alpha und Omega allen Aktionstheaters) mit „M.T.M.“ hier gastierten, zeigten sie eine Show, die mit großem Pomp die Medien kritisieren wollte und sich doch aufs Video stützte, die das Publikum mit Tempo und Gewalt unter Streß setzen und es am Ende mit einer Erlösungssequenz fast zu Tränen rühren wollte.

Ganz anders beim kleinen RA.M.M.-Theater im Techno- Bassin. Hier wird selbstverständlich und unaggressiv zwischen den Zuschauern gespielt. Mit Ruhe geschieht an verschiedenen Ecken verschiedenes, Zeit, eine Zigarette zu rauchen, ist allemal.

Ganz ohne missionarischen Anspruch ist diese Performance und sympathisch in ihrer schlußendlichen Radikalität. Denn als das Publikum dann klatschen und johlen wollte, zeigte sich niemand vom Ensemble. Wo eine Applausordnung sein sollte, mixten DJ und Lichttechniker statt dessen ein Ausklangambiente.

Teilweise wochenlang mögen die insgesamt zwölf Darsteller vom RA.M.M.-Theater (inklusive der Gäste aus Japan, China und Rußland) geprobt, trainiert, gebastelt haben – und dann verzichten sie nach den wenigen Vorstellungen auf ihren Applaus? Vielleicht damit hinterher keiner sagen kann, es wäre eben doch nur ein Spiel gewesen, ein Gastspiel gar. Wer weiß.

Noch morgen und Samstag, Einlaß 21 Uhr, Beginn gegen 22.30 Uhr, Evidence-Hall des E-Werks, Wilhelmstraße 42, Mitte

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