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Zukunft hat nur die Nostalgie

In den wilhelminischen Geisterstädten des Diamantensperrgebiets im Südwesten Namibias wird die „deutsche Wertarbeit“ allmählich vom Wüstensand verschluckt  ■ Aus Lüderitz Henk Raijer und Gunda Schwantje

„Hart wie Kameldornholz ist unser Land, und trocken sind seine Reviere. Die Klippen, sie sind von der Sonne verbrannt, und scheu sind im Busche die Tiere. Und sollte man uns fragen: Was hält euch denn hier fest? Wir könnten nur sagen: Wir lie-hie-ben Südwest ...“

(Das Südwesterlied, 1937)

Strophe um Strophe Gänsehaut. Siegfried Manns ist Südwester, daran ändert auch der neue Name nichts. „Naa-mii-bia“ – gedehnt spricht er's, verächtlich klingt's. Abwehr, nein: Ekel zeichnet sich auf seinem von der Sonne gegerbten Gesicht ab. Siegfried Manns ist aber auch und vor allem deutsch. In der „Heimat“ war der 68jährige Lüderitzbuchter, Bart, Brille, weißgelockter Schopf, zwar nie. Aber der 1926 in Kolmanskuppe geboren Südwester kennt sie aus der „Literatur“: Deutschland ist, was in vergilbten Illustrierten steht, in deutschnationalen Schriften aus den Zwanzigern, in Kriegserinnerungen, in Hans Grimms „Volk ohne Raum“, in „Mein Kampf“.

In seinen Räumen über der „Lüderitzer Buchhandlung“ in der Bismarckstraße konserviert Manns das, was ihn unterscheidet – von den „kulturlosen“ Südafrikanern, zwischen 1915 und 1989 Mandatsherren im heutigen Namibia, und von den „Kaffern“, die seit der Unabhängigkeit 1990 „in immer größerer Zahl nach Lüderitz kommen und nur die Hand aufhalten“. Devotionalien jeder Größenordnung schmücken Wände, Schränke und Vitrinen: Reichskriegsflagge, Spielzeugkanonen, Hindenburg-Büste aus Porzellan, Bierkrüge vom Nürnberger Reichsparteitag, das Eiserne Kreuz erster Klasse des Bruders, der 1939 vaterlandsverliebt nach Deutschland reiste und in Rußland liegenblieb, der Führer auf handsignierter Ansichtkarte (freundlich), en profil (diabolisch), und gleich daneben das obligatorische Bergidyll in Öl, schließlich das berühmte Familienfoto von Jalta: Roosevelt, Churchill und Stalin – „die wahren Kriegsverbrecher“.

„Die meisten Erinnerungsstücke hab ich 1938 gesammelt, als ich in der deutschen Schule bei der HJ war“, schwärmt Manns, „einiges bringen mir aber auch heute noch Freunde aus Deutschland mit.“ Ein Fossil ist Siegfried Manns, aber nicht das einzige in Lüderitz, jenem skurrilen Ort am Ende einer 140 Kilometer langen Sackgasse durch das unbewohnte Namib-Wüstenland. Etwa 800 Deutsche leben heute in der 1883 vom Bremer Kaufmann Franz Adolf Eduard Lüderitz gegründeten Hafenstadt am Atlantik, in der die Zeit stehengeblieben scheint: unverändert seit wilhelminischer Zeit die Jugendstilhäuser mit Giebeln, Türmchen und Veranden – gebaut für die Ewigkeit, in den Jahren zwischen dem ersten Diamantenfund 1908 und dem Kriegsausbruch 1914, dem Anfang vom Ende deutscher Kolonialherrlichkeit in Afrika. Unverändert in den Köpfen auch das Bild von deutscher Überlegenheit – und von einem Deutschland, das längst aufgehört hat zu existieren.

Weit gereist waren sie, die Schutztruppler, Eisenbahner, Geschäftemacher, Prospektoren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber sie sind nie wirklich angekommen. Die Goerkes, Bödickers, Schmitz, Meyers, Mettkes, Kleins, Kapps, Steinbachs, Krauses und Manns – weder sie noch ihre Nachkommen haben die Nabelschnur je durchtrennt. Sie haben sich in den Felsen von Lüderitz festgekrallt – nicht etwa, um ein Teil dieses Kontinents zu werden, sondern um deutsch zu bleiben. Mit Beharrlichkeit und „Wertarbeit“ rückten sie der Wüste auf den Pelz. Und mit Waffen hielten sie sich Afrika vom Leib.

Aber so wie in den Geisterstädten des Diamantensperrgebiets „deutsche Wertarbeit“ allmählich im Sande versackt, so kehrt auch Afrika nach „Lüderitzland“ zurück. Seit 1956, als die letzten Bewohner die Diamantenstadt Kolmanskuppe verließen, führen die Jugendstilhäuser dort ihren aussichtslosen Kampf gegen die Wüste. Kleine geriffelte Dünen sammeln sich an Türen und Fenstern, Treppen mit massivem Holzgeländer ragen aus dem Sand. Verrostete Loren stehen nutzlos aufgereiht, Schienen verlieren sich im Nichts. Nicht ganz so offenkundig, aber ähnlich beharrlich erobern die einheimischen Namibier ehemals kolonisiertes Terrain zurück. Noch entscheidet der südafrikanische Diamantengigant „Consolidated Diamond Mines“ (CDM) über die Wirtschaft in Lüderitzbucht, noch dominieren die Deutschen im Kleingewerbe. Aber die Politik nimmt langsam Farbe an.

Arbeitssuchende Schwarze strömen zu den Deutschen

Susan Harris, die Bürgermeisterin von Lüderitz, ist geradezu Symbol für den Übergang: Die gebürtige Buchterin ist „Coloured“, der Vater ihrer Mutter war ein Deutscher, die Großmutter eine Schwarze, ihr Vater schließlich Kap-Malaye, der, im 19. Jahrhundert aus Südostasien verschleppt, zum Inventar eines englischen Kapland-Winzers zählte. „Deutsche Wertarbeit, 1911 in Hamburg gefertigt und hierher verschifft“, stellt die elegante Mittvierzigerin nicht ganz ohne Bewunderung fest, während sie mit dem Zeigefinger auf den rotbraunen Eichentisch im Ratssaal von Lüderitz klopft. Ja, es sei für sie und ihre Kollegen der Regierungspartei Swapo schon komisch, unter den Augen jener streng dreinblickenden Honoratioren an der Wand ihre Versammlungen abzuhalten. „Als wir 1990 antraten, waren sie mißtrauisch, unsere Deutschen“, erzählt sie. „Grundsätzlich hat sich am Überlegenheitsgefühl der Weißen bis heute nichts geändert. Aber immerhin: Wir grüßen uns im neuen Namibia.“

Die Apartheid ist tot, ihre Rituale haben überlebt. Nach wie vor ist Schlosser Plietz, Bismarck-Ecke Moltkestraße, für seine Ovambos der „baas“. Nach wie vor darf der „boy“, ein ergreister schwarzer Kellner, in der Konditorei zwar schleppen, aber nicht kassieren. Aber es gibt Probleme konkreterer Natur. „Lüderitz war noch Ende der 70er Jahre fast eine Geisterstadt“, erzählt Harris. Der Hafen sei so gut wie verwaist gewesen, CDM in die weiter südlich gelegene firmeneigene Stadt Oranjemund verzogen. Heute, nachdem CDM die Produktion in der nahen Elisabethbucht wiederaufgenommen hat, könne die Stadt kaum Schritt halten mit dem Diamanten- boom. Und auch Namibias Regierung profitiert – seit Dezember 1994 wandern 50 Prozent der CDM-Einnahmen in den namibischen Staatssäckel.

„Tausende von Schwarzen aus allen Landesteilen kommen nach Lüderitz in der Hoffnung auf einen Job bei CDM. Dort ist der Bedarf aber zur Zeit gedeckt, und im übrigen nehmen die traditionell nur Ovambos. Das schürt Neid, bringt Unruhe in die Stadt und Gewalt in die Township“, so die „farbige“ Bürgermeisterin. „Wir können die Situation seit einiger Zeit kaum noch kontrollieren.“

Und noch eins plagt die lange vergessene Stadt. Lüderitz sitzt in der Falle: Im Westen das Meer, rundherum das Sperrgebiet. Ein 1908 in Berlin unterzeichneter Vertrag über die alleinigen Schürfrechte der „Deutschen Diamanten Gesellschaft“ (DDG) in einem rund hundert Kilometer breiten, parallel zur Küstenlinie verlaufenden Landstreifen stranguliert die Stadt noch heute. Bis 2010 darf der südafrikanische DDG-Rechtsnachfolger CDM, eine hundertprozentige De-Beers-Tochter, den Strand von hier bis zur Grenze nach Südafrika noch umwühlen. Danach fällt auch dieser Teil der Namib an den Staat zurück. „Tourismus“, davon ist Susan Harris überzeugt, „ist dann die einzige Option, unsere Stadt am Leben zu erhalten.“ Denn der Hafen könne mit dem von Walvis Bay, das seit März 1994 offiziell zu Namibia gehört, nicht konkurrieren. Schon heute fordert deshalb die dynamische Lokalpolitikerin die Konzernchefs regelmäßig auf, die Küstenstraße durchs Sperrgebiet freizugeben. „Wenigstens nach Süden hin hätten wir dann eine Verkehrsanbindung.“

Noch scheuen die meisten Namibia-Besucher den Umweg in die entlegene Enklave am Ozean. „Wenn es welche gibt, die sich hierher verirren, sind es Deutsche“, sagt Susan Harris. Entweder hätten sie Verwandte in Lüderitz, oder sie interessierten sich für das deutsche Erbe, das es daheim so nicht mehr gibt. Und für das, was die Wüste an natürlichen und historischen Schätzen bereithält. „Das Sperrgebiet ist unsere letzte Chance. Wenn der Streifen in fünfzehn Jahren frei wird und wir ihn behutsam öffnen könnten, aber die Naturschützer nicht mitziehen, wird's keinen mehr in Lüderitz halten, nicht mal die Deutschen.“

Einer von ihnen hat schon vorgesorgt. Hans-Günther („Gino“) Noli ist ein Mann der Zukunft, sein Geschäft ist die Nostalgie. „Warum sollten wir deutsche Besucher, die sich für die Anfänge der Diamantenförderung interessieren, daran hindern, die Geisterstädte zu besuchen“, fragt sich der Sohn deutscher Einwanderer. Der ehemalige PR-Mann des Diamantenkonzerns chauffiert seit Anfang 1994 mit Sondergenehmigung der CDM zahlungskräftige Touristen nach Elisabethbucht und Bogenfels. Noli kennt jeden Kiesel im Sperrgebiet – und dürfte aus dem Sand wohl Geld machen, denn außer ihm darf keiner rein. Nicht nur Ex-Arbeitgeber CDM, auch die Umweltbehörde behält ihn dabei scharf im Auge: keine Cola-Dose, keinen Fußabdruck soll sie hinnehmen, die „große Leere“.

Für Gino Noli, der selbst fünf Jahre für die Naturschutzbehörde in der Namib Streife geflogen ist, ist das inzwischen eine etwas weltfremde Position. Unberührt sei die Namib doch ohnehin längst nicht mehr, sagt er achselzuckend. „Wir sollten zeigen, was wir haben. Solange der Sand die Bahnhöfe, die Kegelbahnen und die Räume des Turnvereins im Sperrgebiet noch nicht ganz verschluckt hat, wird Lüderitz leben. Und sei es nur von der Erinnerung.“

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