Heftigste Erregung

■ Musikfest : Die London Classical Players zelebrierten Bruckners 3. Sinfonie

Die Aussicht, einer Brucknersinfonie in unserer schönen Stadt lauschen zu können, versetzt den dem Schönen und Erhabenen zugetanen Musikfreund in einen Zustand heftigster Erregung. Er sieht sich schon im abgedunkelten Zuschauerraume sitzen, vor ihm auf dem Podium eine Hundertschaft schwarzgewandeter Instrumentalisten, bereit, dem sogleich eintretenden Pultmagier in allertiefste Tiefen und allerhöchste Höhen zu folgen. Er hört ihn schon, den sich aus Totenstille lösenden zarten Nebel, er erzittert ob des gleich einbrechenden Blechbläserchores, der ihm ein ergriffenes Ahh oder gar ein Ohh abringen wird. Und er weiß: Er wird nach dem Verklingen des Schlußackords (denn auch eine Brucknersinfonie hat einmal ein Ende) bang sich fragen, ob er es wagen dürfe, durch profanes Klatschen die heilige Stille zu stören. Die London Classical Players unter Roger Norrington, historischer Aufführungspraxis verpflichtet, hatte das Bremer Musikfest zur medidativen Versenkung in die Glocke geladen.

Anton Bruckners 3. Sinfonie, Wagner gewidmet, wird in der Urfassung von 1873 kaum gespielt. Sie hören heißt verstehen, warum Bruckners Fangemeinde auf den ungezählten späteren Überarbeitungen besteht. Hier ist nicht der demutsvolle Meister zu hören, der dem Herrgott tönende Kathedralen baut, hier hört man ein eindrucksvolles Dokument rastlosen experimentierfreudigen Suchens.

Anton, der hingebungsvolle Kirchenmusiker bricht aus vertrauten Räumen auf ins Freie. Dorthin locken ihn die eher zwielichtigen Klang- und Erlebniswelten Richard Wagners. Venusberg und Pilgerchor, die im Wissen um baldige Erweckung sanft schlummernde Brünnhilde und das sehrende Sehnen Tristans müssen verarbeitet und bewältigt werden. Collagenartig baut er des großen Richard Töne in seine motorisch unruhigen, häufig im musikalischen Nichts endenden großflächigen Klangräume ein, versucht sie zu begreifen, nutzbar zu machen, versteht oder mißversteht sie.

Roger Norringtons Dirigat führt uns mit zügigen Tempi und ohne effektheischenden Gestaltungsdrang in Bruckners musikalische Werkstatt. Dessen Kampf, sein neues musikalisches Material in die traditionelle Form des sinfonischen Satzes zu gießen, wird unmittelbar erfahr- und erhörbar. Der herbe, dunkle Klang der Classical Players erlaubt keine Glanzpolitur. Die am Orgelmodell orientierte Instrumentation erklingt konturenscharf, nur die Holzbläser sind manchmal eher zu ahnen als zu hören. Selbst in großorchestralen Unisonoausbrüchen mischt sich nichts zur hymnischen Klangsoße.

Zuweilen, wenn es gar zu schön oder gar zu glatt werden könnte, erinnern uns kleine technische Ausrutscher, vom Dirigenten mit mild strafenden Blick über die Lesebrille registriert, daran: Hier wird nichts zelebriert, sondern hart ums Verstehen, Vermitteln und Erklären gerungen. Bremens Musikfreunde dokumentierten mit sehr heftigem, echt lang anhaltendem Beifall, daß sie derartigen interpretatorischen Herausforderungen gewachsen sind.

Dabei hat ihnen sicherlich der frühe Haydn geholfen, der mit seiner exemplarisch dargebotenen 59. Sinfonie vor der Pause demonstrierte, wie er mit Witz und Vergnügen die Form ausprobierte, die Bruckner später zum existentiellen Problem wurde.

Mario Nitsche