: Legasthenie ist toll!
■ ... wäre da nicht die Schriftsprache. Hinter der Lese-Rechtschreibschwäche schlummern enorme Talente, behauptet der Therapeut und Autor Davis
Heute Vortrag in Bremen
Eine amerikanische Erfolgsstory: Ronnie, ein junger Autist, macht ständig in die Hose, kennt mit 11 nicht seinen Familiennamen, kann weder lesen noch schreiben, gilt medizinisch als geisteskrank mit Hirngeschaden. Mit 17 mißt man einen überraschend hohen IQ von 137 bei ihm. Er wird speziell gefördert, gilt fortan als hochbegabter Legastheniker, wird Ingenieur, macht zwei Millionen Dollar in Der Rüstung (Interkontinentalraketen). Mit 38 geht er in Rente und wird Bildhauer. Eines Tages holt er sich „Die Schatzinsel“ aus der Bibliothek und liest sie in einem Rutsch durch. Gründet ein Institut zur Erforschung der Legasthenie, heilt tausend Legastheniker, schreibt ein erfolgreiches Buch. Und jetzt eröffnet er in Hamburg die erste deutsche Filiale seiner „Schule“. (Und demnächst in der Schweiz, in England, in Holland ...).
„Legasthenie als Talentsignal“ heißt Ronald Davis' soeben auf Deutsch im Esoterik-Verlag Ariston erschienenes Buch. Der Originaltitel ist noch deutlicher: The Gift Of Dyslexia (Das Talent / das Geschenk der Legasthenie). Unterzeile: „Warum einige der intelligentesten Leute nicht lesen können und wie sie es lernen.“ Was ist, fragt Davis, das Erfolgsgeheimnis solcher Genies wie Leonardo da Vinci, Thomas Edison, Walt Disney, Albert Einstein, Whoopi Goldberg, Winston Churchill und Henry Ford? Legasthenie, weiß er. Legastheniker dächten in Bildern statt in Begriffen und seien dadurch 400 bis 2.000 mal fixer im Kopf als Menschen ohne das Spezialtalent. Und wenn sie in einer Welt ohne Schriftsprache lebten, hätten sie glatt die besseren Karten.
Doch da ist die Schrift. Mit ihren vielen abstrakten Zeichen und Zeichenketten, die in der Bilderwelt des Legasthenikers keine Entsprechnung finden. In der Schrift verliert er sich. Davis sagt, er verliert die Orientierung. Die Buchstaben und Ziffern beginnen zu tanzen, sich zu verzerren, der Betroffene fängt an sie zu verwechseln, zu verdrehen, zu kippen und zu spiegeln, Silben auszulassen oder ganze Sätze hinzuzuphantasieren. Er gerät in eine furchtbare Streßsituation, die schließlich das Verstehen des Gelesenen unmöglich macht. (Um einem Nichtlegastheniker eine legasthenische Erfahrung zu vermitteln, setzt man ihn gern ausgiebig auf einen rotierenden Drehstuhl; wenn ihm dann so richtig schwindelig ist, soll er versuchen, aus einem Buch vorzulesen.)
Der Legastheniker verliert schon in jungen Jahren nicht nur „die Orientierung“, er verliert insbesondere, als Versager, sein Selbstbewußtsein. Oft ist lebenslange Scham die Folge, und alle Intelligenz wird darauf verwandt, die Schwäche zu verstecken. Es gibt etliche erstaunliche Legastheniker-Geschichten wie die von dem Schüler, der scheinbar perfekt vorlesen kann, bis der Lehrer merkt, daß er das Buch verkehrt herum hält.
Ronald Davis' Legasthenie-Therapie und sein Beratungszentrum in Burlingame/Kalifornien sind in der Fachwelt bisher nicht anerkannt. Die US-Regierung investiert lieber in die Suche nach einem entsprechenden Gendefekt. Davis bezeichnet sich auch nicht als Forscher (researcher), sondern als „Sucher“ (searcher). Seine eigene Heilung, die möglich wurde, als er den verzweifelten Kampf mit den Buchstaben aufgab und sich der Kunst (den „Bildern“) widmete, ist die Grundlage der von ihm entwickelten Therapie. „97 % Erfolgsquote“, meldet Davis forsch. Auf Nachfrage definiert er „Erfolg“ als „spürbare Verbesserung beim Lesen und Schreiben oder im persönlichen Empfinden“. Seine Methode rechtfertigt sich nicht wissenschaftlich-theoretisch, sondern (wenn es gut geht) durch den praktischen Wert.
Die Behandlung selbst, die mindestens drei Monate und bis zu einem Jahr dauern kann, besteht aus zwei Teilen: Es wird mit speziellen Konzentrationsübungen gelernt, sich zu orientieren, d.h. die legasthenische Situation, in der nicht mehr das gesehen wird, was ist, „abzuschalten“. Daneben übt man bei Davis, mit einer Reihe für Legastheniker besonders schwieriger Wörter umzugehen: solche, die im Kopf keinerlei Bild erzeugen. Beispiel: „und“, „das“ oder „soll“. Im Englischen hat Davis 217 dieser Problembegriffe gefunden. Für jeden muß sein Klient ein individuelles Bild erfinden. Davis selbst hat für „und“ zum Beispiel das Bild von zwei aneinandergekoppelten Eisenbahnwaggons.
Der Meister ist derzeit auf Europatournee, um in Workshops und öffentlichen Veranstaltungen für seine hier bislang fast gänzlich unbekannte Methode zu werben. In Deutschland hat seine international tätige Organisation den Start gut getimed: Davis und die deutsche Übersetzung seines Buches kommen gleichzeitig an/heraus; soeben wurde der Verein „Deutsche Legasthenikerhilfe e.V.“ von einem Schüler gegründet. Und im Oktober weiht Davis in Hamburg das erste deutsche Beratungsinstitut ein. Der Aufmerksamkeit der Legasthenikerszene (die Schätzungen schwanken zwischen 3 und 10 % Anteil an der Bevölkerung) kann sich Davis sicher sein.
Burkhard Straßmann
Vortrag: Heute, Montag, 20 Uhr, Ökumenisches Gymnasium, Oberneulander Landstraße 143a
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