: Lotte in Pankow
Sie verläßt selten ihr Haus, hat keine Freunde und redet nur noch mit ihrer Haushälterin und dem Gärtner. Die Witwe des DDR-Gründers Walter Ulbricht hat sich von der Welt verabschiedet ■ Von Thorsten Schmitz
Der Gärtner fährt einen marineblauen Golf „Chicago“, und er lügt nicht schlecht. Die Wahrheit verschweigen und den Rasen mähen, beides gehört zu seinen Aufgaben. Er steht zwischen einem fahnenlosen Fahnenmast, Rosenhecken und Tannen und gibt dem Gewächs, was die Sonne ihm entzieht. Dabei verpaßt er auch seinem ganzen Stolz, dem Golf, eine Dusche, „das ist ein Sondermodell, das braucht eine Sonderbehandlung“. Jeden Werktag tourt der Gärtner von Bernau nach Berlin-Pankow. Aus reiner Nächstenliebe vermutlich, denn verdienen tut er nichts mit dem Gartenschlauch in der Hand. Sagt er.
Der Gärtner mit dem dicken Bauch und dem vergilbten und verschwitzten Unterhemd gießt auf historisch relevantem Areal. In der DDR dienten der ovale Majakowskiring und seine mittelprächtigen Villen der SED-Prominenz und ihrer Entourage als „Städtchen“. Nur nach Personenkontrolle durfte normales Fußvolk das Biotop betreten, wo unter vielen anderen Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter und Lieselotte Ulbricht sich eingenistet hatten. Soldaten des Ehrenbataillons „Felix Dserschinski“ patrouillierten durch die Straße links vom Pankower Schloß.
Heute fahren zwei Polizisten in einem verlotterten Wartburg alle zwei Stunden das Terrain ab, Egon Krenz wohnt noch hier. Und Lotte Ulbricht, 92. Jene Witwe, deren Mann drei Wochen vor dem 13. August 1961 sagte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“
Am Eingangstor zum Einfamilienhaus steht, in schwarzen Lettern auf goldenem Grund, der Name Ulbricht in Großbuchstaben, den Briefkastenschlitz hat der Gärtner mit transparentem Klebeband versiegelt. Es gab Zeiten, da fand die Hausbesitzerin Scheiße im Briefkasten. Auf den Balkon traut sie sich auch nicht mehr, einmal haben „Lausbuben“ mit Spatzenschleuder und ungekochten Bohnen auf sie gezielt.
Nein, sagt der Gärtner und stellt das Wasser ab, wie kommen Sie darauf, daß Lotte Ulbricht hier lebt. Das Haus sei verwaist, das sehe man doch. Er behüte es nur. Dabei guckt er zu den Erdgeschoßfenstern. „Frau Ulbricht lebt nicht hier, sie ist verreist.“ Just in diesem Moment wird der Wohnzimmervorhang zur Seite geschoben, jemand nimmt den Fischotter aus weißem Porzellan von der Anrichte und öffnet das Fenster. Der Gärtner wendet sich um: „Der Mann hat sich nur verklingelt, Frau Ulbricht.“
Seit 22 Jahren lebt Lieselotte Ulbricht hier, in der Einflugschneise nach Berlin-Tegel, zwischen indischer und chinesischer Botschaft. Die gewesene First Lady der DDR hat nach dem Tod ihres Mannes Wandlitz verlassen und sich wieder in dem 150-Quadratmeter-Refugium in Pankow eingekapselt. Ulbricht starb 80jährig am 1. August 1973. Die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Weltfestspiele der Jugend in Berlin wurden nicht unterbrochen. Das Treffen, so Walters wohlfeiler Wunsch, möge sich durch seinen Hingang nicht stören lassen.
In ihren 27 Ehejahren verzichten die Ulbrichts auf Prunk, Protz und pietätvolles Procedere. Die Beerdigung Walter Ulbrichts ist zugleich das Finale einer stalinistisch geprägten Ära. Erich Honecker, Walter Ulbrichts Intimfeind, verfügt, den Namen seines Vorgängers aus den Schulbüchern zu tilgen. Auf Freundschaften haben beide „nie“ Wert gelegt, wie Lotte der Frauenzeitschrift Für Dich einmal verrät, es gibt, natürlich, Wichtigeres: „Der Kampf ist unser Lebensinhalt.“ Diese Devise rächt sich, bis heute. Den einzigen Kontakt, den die Ulbricht noch pflegt, ist der zur Pankower PDS und zu einstigen Kampfgenossen im Tessin. „Bei den roten Socken fühle ich mich zu Hause“, hat sie einmal einem Fotografen gesagt.
Jetzt beugt sie sich aus dem Fenster und ruft mit schneidender Stimme: „Was wollen Sie von mir?“
„Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten. Über Ihren Mann, über Honecker ...“
„Aber ich möchte nicht mit Ihnen reden.“
„Mich interessiert außerdem Ihre Ansicht zur Wende.“
„Ich freue mich nicht über die Wende, das hätte alles nicht so kommen dürfen. Wenn Modrow und die PDS sich durchgesetzt hätten, würde es uns jetzt nicht so schlecht gehen.“ Es ist später Nachmittag, und sie zurrt den Gürtel ihres marineblauen Bademantels fest. Mit der rechten Hand fährt sie durchs schlohweiße Haar, das sie ein bißchen zusammengesteckt hat. Sie setzt ihre Brille auf, unverkennbares Markenzeichen wie der Spitzbart ihres Gatten.
„Lassen Sie mich in Ruhe“, verlangt Lotte Ulbricht im Befehlston aus ihrem braungrauen Haus heraus. „Wenn ich mit einer Zeitung anfange, kommen gleich die anderen. Ich habe keine Zeit für so was. Alles Gute.“
Sie schließt das Doppelfenster, das fällt ihr schwer. „Soll ich helfen kommen“, fragt der Gärtner. Und erntet energisches Kopfschütteln. Lotte Ulbricht läuft an Krücken. Sie schlurft in die Küche, die zum Garten hinaus liegt. Dort liest sie, auf einer Art Schemel, ihre Zeitung, die sie im Abonnement bezieht – das Neue Deutschland.
Die Nachbarn von Lotte Ulbricht messen ihr die Aufmerksamkeit bei, die ihr am liebsten ist: gar keine. Werner Schmidtge, der gerade seinen beigefarbenen Trabi putzt, wohnt schon seit zwanzig Jahren im Majakowskiring, Haus an Haus mit der Ulbricht. „Ach Gott, ja, wenn ich meinen Hund ausführe, begegne ich ihr manchmal, in letzter Zeit aber immer seltener. Ihr soll es nicht so gut gehen.“ In all den Jahren, in denen sein schwarzer Pudel das Bein hebt in Höhe Majakowskiring Nummer 12, habe sich das Wohnzimmer-Interieur der Lotte Ulbricht nicht geändert. „An der Decke hängt die Glaskugellampe wie die im Palast der Republik. Und an der Wand ein Landschaftsbild mit Schweizer Bergen und Kühen.“ Und neben der Couch steht eine dieser Lampen aus der Nierentisch-Ära. Lotte Ulbrichts Zeit ist „längst“ abgelaufen, sagt der Nachbar. Sie wäre am liebsten tot, habe sie ihm einmal am Gartenzaun gebeichtet. Was soll sie auch noch hier, das kann er verstehen. „Die Frau ist genug bestraft worden von der Geschichte.“
Honeckers Adlatus und Nachfolger Egon Krenz, der sich im November vor Gericht verantworten muß wegen der Schüsse an der Mauer, hält zwar losen Kontakt zu seiner Nachbarin. Warum auch solle man Lotte Ulbricht schneiden? Aber plaudern, nein, das mag er nicht: „Frau Ulbricht will nicht, daß man über sie redet.“
Bis zur Entmachtung Walter Ulbrichts durch Moskau und Erich Honecker wurde die geborene Neuköllnerin das Gefühl nie los, nur Gattin gewesen zu sein. Ausgerechnet sie, die sich für die Gleichberechtigung der Frauen so ins Zeug gelegt hat: „Jede Frau ist zu bedauern, der nicht die Möglichkeit gegeben ist, am gesellschaftlichen Fortschritt teilzunehmen und dadurch ihre Kräfte voll zu entfalten.“ Solche Losungen ließ sie fallen in VEBs und LPGs, wenn sie sich auf Tuchfühlung begab zu den „tüchtigen Frauen unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates“.
Oft fühlte sich Lotte Ulbricht lediglich als brauchbare Gefährtin an der Seite ihres Gatten und DDR-Ministerpräsidenten Walter Ulbricht, etwa dann, als sie bei Chruschtschows Stippvisite im August 1957 dolmetschen durfte. In der Wochenpost vom September 1959 verriet sie, „besonders den Leserinnen“, wie es ihr da erging: „Auf dem Wege zur Kundgebung war ich wieder einmal vom Strom der Menschen, die Walter Ulbricht begrüßen oder ihm irgend etwas sagen wollten, beiseite geschoben worden. Während eine Frau lebhaft auf ihn einsprach, sah sich mein Mann nach mir um, zog mich durch die Reihen der anderen hindurch und sagte zu seiner Gesprächspartnerin: ,Da kann ich Ihnen gleich mal meine Frau vorstellen.‘ – ,Nein‘, erwiderte die Frau völlig perplex, ,Sie haben eine Frau?‘ Ich mußte herzhaft lachen: ,Doch, doch‘, sagte ich, ,er hat auch eine.‘“
Allerdings eine ohne Kinder. Lotte Ulbricht empfand ihre Unfruchtbarkeit als Makel, Walter sowieso. Kommunistisches Vorbild sein und das höchste Amt im Staate innehaben ohne Kinder, ohne Erfüllung familiären Plansolls? So adoptierten die beiden kurz nach ihrer Hochzeit 1946 die zweijährige Beate, deren Eltern im Krieg umgekommen waren.
Die Bilderbuchfamilie von Wandlitz: Lotte beugt sich über die Hausaufgaben von Beate, Walter steht schneidet Rosenhecken, Lotte und Walter spielen Tischtennis – solche Bilder veröffentlichte das Neue Deutschland vorzugsweise an Tagen, die im Kalender dem Arbeiter oder der Frau gewidmet waren. Beate mochte ihren Stiefvater: „Sein Spitzbart kitzelte immer, wenn er mir einen Kuß gab“ – und haßte ihre Stiefmutter: „Ich war ihr nicht perfekt genug.“
Niemand war Lotte perfekt genung. Der Maler, der Walter Ulbricht in Öl verewigt hat und noch heute nicht genannt werden will, erinnert sich: „Sie fand partout, daß Walters Hände zu groß geraten seien. Sie ließ nicht locker, herrschte mich an, bis ich sie kleiner machte.“
Beate war über Nacht die Tochter des mächtigsten Mannes der DDR geworden. Und der Frau an seiner Seite, die nie ihren Kampfauftrag vergaß, ob sie nun öffentlich Kinderköpfe tätschelte oder noch im Kinderzimmer „die kapitalistischen Wolfsgesetze vernichten“ wollte. Ihre Tochter mußte dasselbe wollen. Beate sollte der erste neue Mensch im neuen Deutschland sein. Und ihr Vorbild der geistige Ziehvater ihrer Eltern: Genosse Stalin. Lotte Ulbricht sei kalt gewesen, intrigant, herrschsüchtig – das sagt Beates Tochter Andruschka heute.
Die Idylle war ein Alptraum. Beate wurde erwachsen. Beate trank Wermut bis zur Besinnungslosigkeit, sie lag ständig im Zwist mit den Nachbarn ihrer Lichtenberger Wohnung – ihre besten Freunde kamen aus dem Pennermilieu. Die Stiefeltern verstießen die Stieftochter und brachen den Kontakt ab. Als Beate Matteoli 1991 mit 47 Jahren in ihrer Wohnung tot gefunden wird, erfährt Lotte Ulbricht aus der Presse vom bis heute ungeklärten Tod der Stieftochter. Auf die Frage eines Reporters sagt sie: „Was soll ich empfinden? Ich sage gar nichts. Ich habe mit den Jahren ein dickes Fell bekommen.“
Das hat sie bis heute. Ein Mitglied des Politbüros erinnert sich gut an Lotte Ulbricht: „Die ist kalt im Herzen. Sie müssen sich den tiefen Sturz vorstellen, von der First Lady zum Niemand. Erst wird ihr Mann kaltgestellt, dann stirbt er, sie vereinsamt, die beiden hatten nie Freundschaften gepflegt.“
Die Welt hat längst Abschied genommen von Lotte Ulbricht – und sie von der Welt. Sie geht kaum noch raus, kauft höchstens beim Metzger um die Ecke Hackfleisch, „immer ein halbes Pfund“. Einmal alle zwei Wochen fährt Lotte Ulbricht mit ihrer Haushälterin zur Gedenkstätte der Sozialisten nach Berlin-Lichtenberg. Dort liegt Walters Urne neben der von Rosa Luxemburg, darüber steht in Stein gemeißelt: „Die Toten mahnen uns.“
Abends hockt sie, manchmal stundenlang, in einem großen Ohrensessel im Wohnzimmer – und nickt sacht ein. Oder guckt nebenan Fernsehen. Mindestens zweimal die Woche fährt ein Pankower Arzt mit einem knallroten Volvo vor. Ihr freiwillig gewähltes Ghetto verließ sie vor ein paar Jahren noch regelmäßig mittwochs und samstags; immer um zehn Uhr spazierte sie mit einem Stoffbeutel zum Pankower Wochenmarkt. Nun geht sie nur noch kurz aufs Trottoir vor ihr Haus, 50 Meter nach links, 50 Meter nach rechts.
Am Arm ihrer Haushälterin, in einem Kunstfellmantel, steigt sie die drei Stufen der Eingangstreppe hinab. Wie in Zeitlupe. Sie trägt eine Strickmütze, die ihr tief im scharfkantigen Gesicht hängt. Die dunklen Augenbrauen passen nicht zum weißen Haar.
„Guten Tag Frau Ulbricht.“
„Haben Sie mich nicht verstanden? Ich habe nichts zu sagen.“
Lotte Ulbricht bleibt kurz stehen, bevor sie mit der Haushälterin wieder im Haus verschwindet. „Lassen Sie mich. Lassen Sie mich in Ruhe sterben.“
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