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Therapie kaputtgespart

■ Eine 20prozentige Honorarkürzung gefährdet die Kinder- und Jugendtherapie / Klage gegen Senatsverwaltung eingereicht

Der Fünfjährige biß sich im Arm seiner Mutter fest, auch andere Kinder im Kinderladen biß er bei Auseinandersetzungen. Er weigerte sich zu sprechen. Die Eltern beantragten schließlich beim Jugendamt eine Therapie, die auch bewilligt wurde. Nach drei Monaten Spieltherapie konnte der Junge sprechen und lernte, mit Spielkameraden Konflikte anders auszutragen. Auch die Ursache der Verhaltensauffälligkeit konnte der Psychologe herausfinden: Der Lebensgefährte der Mutter hatte dem Jungen nicht die geringste Zuwendung zuteil werden lassen. Dies konnte in der begleitenden Elternberatung angesprochen werden.

Über 2.500 Kinder und Jugendliche mit „auffälligem“ Verhalten nehmen pro Jahr diese Therapieangebote wahr. Meist sind es Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Oft kann das Scheitern in der Schule oder gar eine Heimeinweisung abgewendet werden.

Doch der ambulanten Versorgung dieser Kinder droht jetzt der Zusammenbruch, warnten gestern acht gemeinnützige Psychotherapievereine. Seit Anfang des Jahres trägt der Senat nicht mehr die Kosten. Die Bezirke müssen diese aus ihrem Globalhaushalt bezahlen. Seitdem werden Therapiestunden für verhaltensauffällige Kinder nicht nur zögerlicher bewilligt, sondern auch schlechter bezahlt.

Das Entgelt für eine 50minütige Therapiestunde wurde von 100 Mark auf 79,13 Mark verringert. Diese 20prozentige Kürzung könne bei steigenden Fixkosten nicht mehr länger aufgefangen werden, erklärte gestern die Geschäftsführerin des Legastheniezentrums, Sabine Graf. Eine Sozialarbeiterin habe sie bereits entlassen müssen. Als nächsten Schritt müsse sie womöglich die Gehälter und Honorare der 50 PsychologInnen um ein Viertel kürzen. Andere Einrichtungen haben die Honorare für PsychologInnen bereits gekürzt.

Graf warnte auch vor den langfristigen Folgen des Sparkurses. Freie Praxen würden sich zunehmend von der Kinderpsychotherapie wegorientieren, die Zahl der Therapieplätze werde abnehmen. Dabei gebe es schon jetzt Wartelisten. Für die gemeinnützigen Vereine befürchtet sie, daß sich erfahrene Kräfte nach besser bezahlten Stellen umsehen. Dies führe zu Qualitätseinbußen.

„Das Kaputtsparen der Kinder- und Jugendpsychotherapie ist ein kurzsichtiges Manöver“, kritisierte Sabine Graf. Die gesellschaftlichen Folgekosten seien weitaus höher. Häufig handle es sich um aggressive Kinder, die in der Therapie einen anderen Umgang mit Aggressionen lernen würden.

Seit über einem Jahr bemühen sich die betroffenen Vereine um Kostensatzverhandlungen mit der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, bislang ohne Erfolg. Jetzt klagen sie vor dem Verwaltungsgericht. Das scheint zu wirken. Der Sprecher der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, Gerrit Schrader, erklärte gestern, man wolle in vier bis sechs Wochen die Verhandlungen aufnehmen. Dorothee Winden

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