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Rückenakte mit Panzerspuren

Stimmige Semantik: Der Künstler läßt keinen Zweifel daran, daß sein Model gemietet ist. Die Foto-Triennale in Esslingen stellt unter dem Titel „Close to Life“ Bilder zum zeitgenössischen Umgang mit Dokumentarfotografie aus  ■ Von Gabriele Hofmann

Erst vor einem halben Jahr konnte sich die Kulturstiftung der Länder dazu durchringen, dem 1989 in Esslingen begonnenen Projekt einer Internationalen Foto-Triennale den notwendigen finanziellen Anschub zu geben. Zu spät. Für die beiden Kuratoren Ulrich Bischoff, Direktor der Gemäldegalerie Neue Meister in Dresden, und Thomas Weski, zuständig für Fotografie und Medien am Sprengel Museum in Hannover, waren zu diesem Zeitpunkt bereits einige Züge abgefahren. Schmerzlich vor allem der erzwungene Verzicht auf die Teilnahme von Cindy Sherman und Lee Friedländer.

Zum Start der Triennale im Jahr des 150. Geburtstags der Fotografie mußte eine international besetzte Jury her. Sie wählte 1989 vierzig meist prominente Fotografen und Fotografinnen aus und überließ ihnen als Überblicksthema „Kunst mit Fotografie“. 1992 durften dann sogar siebzig „Bildautoren“, jetzt im Alleingang ausgewählt von Manfred Schmalriede, einem vorwiegend schwäbischen Publikum mit „erfundenen Wirlichkeiten“ begegnen. In diesem Jahr nun die Gegenposition „Close to Life“, in der Hoffnung, daß der Wettbewerb der Medien bereits für Überdruß an technischer Raffinesse und gigantischem Blow-up gesorgt hat. Schon bevor das publikumsfreundliche Label gefunden war, standen die sechsundzwanzig Fotografinnen und Fotografen fest, von denen die meisten mit Mitteln der Dokumentarfotografie – also ohne Manipulation im Labor oder mit dem Computer – künstlerische Bildaussagen anstreben.

Robert Adams, mit achtundfünfzig Jahren der älteste Teilnehmer, mußte die Fotos für seinen Bildbericht „Unser Leben und unsere Kinder“ aus der Hüfte schießen, um Menschen in der Nähe der Plutoniumanlagen von Denver, Colorado, unbemerkt ablichten zu können. Zum Künstler wird er im Atelier, wenn es bei der Festlegung der Bildausschnitte und ihrer Reihenfolge darum geht, der Sequenz eine stimmige, aber unaufdringliche Semantik zu geben. Ein behindertes Kind, allein auf einem besonnten Straßenstück vor spiegelnder Bürofassade, verliert das Gleichgewicht – unübersehbar der verlängerte Schatten beim Moment des Fallens. Bei den letzten Aufnahmen verändert sich das Bildformat vom Quadrat zum schmalen Streifen, gleichzeitig verwischen die Konturen. Um zu zeigen, „auf wie geheimnisvolle Weise jeder einzelne vollkommen ist“, benutzt Adams eine ausgeklügelte Bildregie, die der Sequenz dieser kleinformatigen Schwarzweißfotos Monumentalität gibt.

Zwölf Portraits junger Menschen vor dem Washingtoner Mahnmal für die Opfer des Vietnamkrieges bestimmen die Atmosphäre im größten Saal der Esslinger Villa Merkel. Die Amerikanerin Judith Joy Ross hat die Gesichter, deren Ausdruck von stummer Trauer, Hilflosigkeit und Passivität fast immer gleichbleibt, mit der Großbildkamera aufgenommen. Das Ergebnis sind Momentaufnahmen, von denen eine eigenartige Bewegungslosigkeit ausgeht. Die Hinterlassenschaft des Krieges ist auch das Thema von Sophie Ristelhueber (Paris). Ein Rücken mit vernarbter Stichwunde in extremer Nahsicht ist Luftaufnahmen mit ebenso akkurat gezogenen Panzerspuren und anderen Mustern in der Wüstenlandschaft von Kuwait konfrontiert. „Wenn der Vorgang der Beschreibung beendet ist, stellt man fest, daß nichts mehr übrigbleibt“, sagt die Semiologin und meint den an solche Zeichen der Gewalt gewöhnten „Weitblick“.

Auffallend viele FotokünstlerInnen benutzen heute den Schnappschuß für arrangierte Bilder, mit denen sie die alte Frage nach der Authentizität des fotografischen Abbildes ins Reich der Metaphysik heben. Tina Barney etwa mit „Reflection“, einer großformatigen Farbfotografie, auf der Menschen, Gegenstände und Spiegelbilder sich den Raum streitig machen. In „Artists“ verheddern sich die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit: die Künstler als die eigentlichen Akteure und ihre gemalten oder in Bronze gegossenen Kunstfiguren. Was man beim Einzelbild als Horror vacui mißverstehen könnte, erweist sich in der Serie als Stilmittel. Barney macht mit Ironie und Sympathie aus ihrem eigenen Umfeld eine Collage: Menschen des gehobenen Bürgertums, eingekeilt zwischen repräsentativen Gegenständen und den Verhaltensweisen ihrer Klasse.

Auch der Engländer Paul Graham sieht seine Arbeit zu „Close to Life“ keineswegs als pure Dokumentarfotografie. Er portraitierte einzelne Menschen seines Bekanntenkreises beim Fernsehen – alle im Profil, alle mit dem Blick nach rechts aus dem Bild heraus. Doch wichtigstes Stilmittel, ihre Inaktivität suggestiv zu unterstreichen, ist die künstliche Farbigkeit, mit der sich Graham als Nachfolger des ebenfalls vertretenen William Eggleston zu erkennen gibt.

Knapp ein Viertel der Triennale-TeilnehmerInnen finden ihre Motive in gesellschaftlichen Randzonen. Sie benutzen die Mittel des Fotojournalismus im Bewußtsein einer zunehmenden Austauschbarkeit der Bilddokumente. Dabei greifen sie sehr unterschiedlich auf die Möglichkeiten der fotografischen Wirklichkeitsbeschreibung zurück. Philip Lorca di Corcia (Hartford, Connecticut) läßt zum Beispiel keinen Zweifel daran, daß seine Portraits von Strichjungen, die er für seine Arbeit mietet, inszeniert sind. Man sieht es den Models an, daß sie bereitwillig nach der Regie des Fotografen im Motelzimmer, auf der Straße oder im Fond eines Wagens posieren. Sich für die Fotoserie einer bestimmten Erwartung zu unterwerfen ist für sie eine andere Art von Prostitution. So jedenfalls kann man die Bildunterschriften mit Namen und Preis der Jungen vom Santa Monica Boulevard in Hollywood interpretieren. Di Corcias raffinierte Schnitt- und Ausleuchtungstechnik läßt dem Betrachter keinen Ausweg: Er begreift, daß er seinen eigenen Klischees im Spiegel begegnet. Vielleicht ist das der erste Schritt, den naiven Glauben an technisch immer perfektere Augenzeugenberichte zu verlieren.

John Gossage (Washington) lehrt seit 1977 Fotografie an der Universität Maryland. Bekannt geworden ist er durch eine Art Landschaftsfotografie, die auf ironische Weise den Umgang des Menschen mit der Landschaft reflektiert. In der Esslinger Ausstellung sind acht Bilder aus der Serie „32o 32'N. LAT“ zu sehen. Den Passepartouts der kleinen Schwarzweißfotos sind Schnipsel von Packpapier und Klebestreifen aufcollagiert. Unnötig viel ästhetischer Aufwand zur Konditionierung des Betrachters, dem klar werden soll, daß es dem Autor nicht um attraktive Fotokunst geht. Die unscharfen oder unterbelichteten Schnappschüsse stammen von der berüchtigten amerikanisch-mexikanischen Grenze, an der täglich illegale Flüchtlinge in die USA der Polizei ins Netz gehen. Gossage benutzt die an diesem Ort eingesetzte Überwachungsfotografie als Stilmittel, wenn er mal ein Gewimmel von Badenden in der Ferne, mal einen kleinen Ausschnitt im Gestrüpp durch stärkere Schärfeneinstellung zu Tatorten erklärt.

Im gleichen Ausstellungsraum stellt auch Hans Peter Feldmann die am Gegenstand konditionierte Wahrnehmung des Betrachters in Frage. Den Düsseldorfer interessiert bei seiner Arbeit mit fremdem Fotomaterial nicht das Bild als Abbild der Wirklichkeit, sondern das „Close to life“ im „Umgang mit Bildern“. Aus einem Arsenal von Fotos zum Thema „Höhepunkte des Lebens“ hat er sechs, die einem privaten Album entstammen, zu einer Reihe vereinigt: sie fotografiert ihn, er fotografiert sie, zuerst vor einer städtischen Blumeninsel, dann nackt im Hotelzimmer. In der kommentarlosen Vorführung des Banalen ist die Serie mit dem geliehenen Voyeursblick eine Abrechnung mit dem gängigen, nur am Bedarf orientierten Fotojournalismus.

Das Kategorienpaar Nähe/Distanz spielt auch bei dem Amerikaner Nicholas Nixon die entscheidende Rolle. Ein Jahr lang hielt er sich als Gast in der Grundschulklasse seines Sohnes auf, um zwischen sich und den Kids eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Herausgekommen ist mit „Room 306“ eine Serie, in der Nixon die Protagonisten im Wechselspiel von soziologischer Langzeitanalyse und familiärer Intimität abgebildet hat.

Ian Wallace, der bei der Triennale die umfängliche Fotoszene in Vancouver vertritt, kommt von der Kunstgeschichte her und befaßt sich parallel zur Fotografie mit Literatur, Linguistik und Psychoanalyse. Ein Bild der „Brussels“-Serie besteht aus zwei Teilen. Das auf Leinwand abgezogene Foto der rechten Bildhälfte zeigt einen Blick durch ein Drahtgitter auf drei Jungen beim Fußballspiel. Die linke Bildseite besitzt einen mit der Rolle aufgetragenen Anstrich aus blauer und roter Acrylfarbe. Der Kamerablick auf das alltägliche „wirkliche“ Leben ist verstellt durch eine Malerei, „die nichts zeigt als sich selbst“. Wallace' Arbeiten geben sich als einzige in der Ausstellung gleich auf den ersten Blick als Denkbilder zu erkennen.

Bis 15. 10. in der Villa Merkel, Esslingen. Der Katalog kostet 35 DM

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