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Tod unter dem Kirchturm

Eine irische Stadt im Banne der Aids-Angst  ■ Aus Dungarvan R. Sotscheck

Merkwürdig, wunderte sich der englische Boulevard-Reporter: Wie eine „Aids-Hauptstadt“ sah der Ort eigentlich gar nicht aus. Hier also soll die „Aids- Rächerin“ ihr Unwesen getrieben haben? Dungarvan, eine Kleinstadt mit knapp 7.000 Menschen und einer Arbeitslosigkeit von 17 Prozent, liegt im Süden Irlands am Meer. Bis in die Städte Cork und Waterford, wo viele EinwohnerInnen des Dorfes in der pharmazeutischen Industrie, in der Lebensmittelbranche oder in der Kristallglasfabrik arbeiten, ist es nur ein Katzensprung. Das Aufregendste, was in letzter Zeit passiert sei, wären ein paar Schafdiebstähle in der Nacht, erzählt Joe, ein 17jähriger Schreinerlehrling mit kurzgeschorenen Haaren und Bomberjacke.

Seit neun Tagen ist die Stadt weltbekannt. Der Grund: Sex, Tod und Religion. „Wir sind doch keine Hinterwäldler“, meint Joe, „Dungarvan liegt doch nicht hinter den sieben Bergen. Wir haben schon mal von Safer Sex gehört, und in den Kneipen und Nachtclubs hängen Kondomautomaten.“ Doch am vorletzten Sonntag sprach der Hilfspfarrer Michael Kennedy bei der Messe in der St.-Mary-Kirche von einer jungen Frau, die absichtlich eine Aids-Epidemie über den Ort gebracht habe. Zwischen ihrer Ankunft aus London im vergangenen November und ihrer Abreise im Mai habe sie „mit 60 bis 80 jungen Männern“ aus Dungarvan und Umgebung geschlafen – stets ohne Kondom. Die 25jährige wollte sich „an der Gesellschaft und vor allem an den Männern“ rächen, weil ihr eigener Freund sie mit Aids infiziert habe. Bei fünf jungen Männern habe der Aids-Test inzwischen ein positives Ergebnis erbracht, neun weitere warteten noch auf den Befund, die übrigen habe er noch nicht ermitteln können.

„Die Predigt schlug ein wie eine Bombe“, sagt Joe. Er selbst geht selten zur Messe, aber in der ganzen Stadt gab es danach kein anderes Thema. Unter den Kirchgängern war auch ein Lokaljournalist vom Cork Examiner, der die Geschichte auf der Titelseite brachte. „Am nächsten Tag fielen die irischen und britischen Medien über Dungarvan her“, sagt Joe. „Es hieß, sie würden 10.000 Pfund für den Namen der Frau bezahlen. Und wenn sie schon die Frau nicht kriegen konnten, dann wenigstens ihre Opfer.“ Aber Pfarrer Kennedy, heißt es, hält dicht. Das habe er versprochen.

Michael Kennedy ist groß und braungebrannt. Seine muskulösen Unterarme verraten den ehemaligen Sportler: Der 40jährige war bis zu seiner Priesterweihe ein erfolgreicher Hurling-Spieler und gewann mit seinem Team 1980 die gesamtirischen Meisterschaften in dieser traditionellen irischen Sportart, die als schnellstes Mannschaftsspiel der Welt gilt. Michael Kennedy sieht seinem Cousin dritten Grades, dem ermordeten US- Präsidenten John F. Kennedy, ein bißchen ähnlich. Zu einem Teil des Kennedy-Clans unterhält er enge Beziehungen. Er saß an Rose Kennedys Sterbebett, und er sprach die Hochzeitsmesse für Robert Kennedys Tochter Courtney und Paul Hill, der als einer der angeblichen IRA-Bombenlegergruppe „Guildford Four“ 16 Jahre unschuldig in englischen Gefängnissen saß.

Zuerst sah es gar nicht danach aus, als ob Michael Kennedy Pfarrer werden wollte. Er brach sein Studium am Priesterseminar in Maynooth 1973 ab und kehrte in seinen Heimatort Birr zurück. Dort wählte man ihn im folgenden Jahr als Kandidat von Sinn Féin, dem politischen Flügel der IRA, in den Stadtrat. Wenige Jahre später ging er jedoch zurück nach Maynooth und erhielt 1981 seine Ordination. Seitdem hat er überall, wo er von den Kirchenoberen als Gemeindepfarrer hingeschickt wurde, für Furore gesorgt.

„Letztes Jahr Techno, dieses Jahr Aids“

Zuerst wetterte er gegen die „Seuche der Glücksspielautomaten“, dann behauptete er während der Sonntagsmesse, im Ort würden pornographische Filme gedreht, und kurz nachdem er im Juli vergangenen Jahres nach Dungarvan versetzt worden war, wetterte er gegen eine Techno-Disco, weil sie angeblich Umschlagplatz für Drogen war. „Letztes Jahr Techno, dieses Jahr Aids und im nächsten Jahr Hämorrhoiden“, meinte ein Kollege Kennedys geringschätzig über dessen Aktivitäten.

Doch der Pfarrer macht eigentlich gar keinen fanatischen Eindruck. Es scheint, daß er seiner Gemeinde einen gehörigen Schrecken einjagen wollte in diesen Zeiten, in denen Irland über die Zulassung von Ehescheidungen abstimmen muß und offen über Abtreibung debattiert. Der Medienrummel, den er auslöste, ist ihm über den Kopf gewachsen. Inzwischen mußte er zugeben, daß er die Aussagen der fünf jungen Männer, die sich angeblich infiziert haben, weder nachgeprüft hat noch sich danach erkundigte, ob sie andere sexuelle Kontakte hatten oder drogensüchtig sind. „Ich habe keinerlei Beweise für meine Geschichte“, sagt Kennedy, „ich glaube aber sehr stark daran.“ Er habe die junge Frau achtmal aufgesucht, und achtmal habe sie ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Beim neunten Mal habe sie ihm alles gebeichtet. Inzwischen liege sie in einer Londoner Klinik im Sterben. „Sie kann nicht mehr sprechen“, sagt der Pfarrer jetzt, „aber ich halte sie über die Ereignisse in Dungarvan auf dem laufenden.“

Kennedys geheimnisvolle Andeutungen öffneten Spekulationen Tür und Tor. Die Leute nannten hinter vorgehaltener Hand bereitwillig Namen. „Es begann eine regelrechte Hexenjagd“, sagt Joe. „Jede Frau im Minirock war verdächtig. Da wurden viele alte Rechnungen beglichen.“ Als der Pfarrer andeutet, daß die Frau in der Wohnsiedlung „Fatima House“ am Stadtrand gewohnt habe, rasen die ReporterInnen los, um mehr über den „Todesengel“, wie die Frau in der Boulevardpresse längst heißt, herauszubekommen. Eine Bewohnerin des Fatima House sagt, sie sei als Aids- Fall abgestempelt worden, als sie vor ein paar Jahren aus London zurückkehrte. „Gerüchte machen hier schnell die Runde“, sagt sie.

„Der Mythos der sexgierigen Frau, die mit Zähnen in ihrer Vagina bewaffnet ist und damit Männer vernichtet, ist älter als die christliche Kirche“, schreibt die Feministin Susan McKay über den Fall. „Aber Pfarrer Kennedys Vorgänger bauten ihre Theologie um diese Furcht vor Frauen herum.“ Frauen, so sagt McKay, werden in Kennedys Geschichte in drei Gruppen eingeteilt: die sexuell unersättliche Killerin, die rechtmäßigen Freundinnen und Ehefrauen sowie die Mütter mit gebrochenem Herzen. „Die letzten beiden Gruppen haben volles Verständnis für ihre Jungs“, sagt sie, „die strengen Worte heben sie sich für die Frau auf, die die furchtbare Krankheit natürlich aus dem verderblichen England eingeschleppt hat.“

Joe zeigt auf das Schaufenster des Video-Verleihs am Marktplatz und meint, das Filmplakat bringe die ganze Angelegenheit ganz gut auf den Nenner: „The Hot Zone“, steht da in dicken, rot-gelben Buchstaben, und etwas kleiner darunter: „Try not to panic.“ Ein etwa 25jähriger Mann, der an dem Laden vorbeigeht, grinst und flüstert aus dem Mundwinkel: „Wir haben hier alle Aids.“ Über den Hörer in der Telefonzelle neben dem Videoladen haben Witzbolde ein Kondom gezogen.

„Dungarvans Ruf ist gründlich ruiniert“, sagt Joe. „Jede Mutter in Irland hat doch jetzt den Alptraum, daß ihre Tochter eines Tages nach Hause kommt und erzählt, sie habe einen netten Jungen aus Dungarvan kennengelernt.“

Auf der anderen Seite des Marktplatzes hat die Aids Alliance aus Cork einen Informationsstand aufgebaut. Die Menschen machen einen weiten Bogen um den Stand. „Es ist sehr schwierig für die Leute, mit uns zu reden“, sagt Teresa McElhinney von der Aids Alliance, „bei der riesigen Aufmerksamkeit, die der Fall erfährt.“ Verschiedene Eltern haben sich jedoch an die Organisation gewandt. „Sie haben alle dieselbe Frage gestellt“, sagt McElhinney: „Kann so etwas überhaupt passieren?“

Irische Wissenschaftler und Behörden halten es für unwahrscheinlich. James Walsh, der ehemalige Aids-Koordinator, sagte, statistisch sei es zwar nicht unmöglich, aber „höchst unwahrscheinlich, daß sich ein Mann bei einmaligem vaginalen Geschlechtsverkehr“ anstecke. Im Durchschnitt geschehe das erst nach etwa 500 Malen. Das örtliche Gesundheitsamt erklärte, nachdem es in den anderen Ämtern in Irland und England nachgefragt hatte, daß es keine Belege für Kennedys Behauptungen gebe. Aids-Beauftragte Robin Gorna: „Das sagt wohl einiges über die Ängste und Phantasien des Pfarrers. Die Ironie an der Geschichte ist, daß gerade die katholische Kirche an der Verbreitung des HIV-Virus in Irland mitschuldig ist, weil sie sich stets gegen Sexualkundeunterricht und Aids-Aufklärung gesperrt hat.“ Es gibt bisher 463 an Aids Erkrankte in Irland, wovon 231 gestorben sind. Bei 1.553 Menschen hat der HIV-Test positiv reagiert.

Kennedys Vorgesetzter, Bischof William Lee aus Waterford, ist verärgert über den Alleingang des Hilfspfarrers, der nicht mal den Hauptpfarrer in Dungarvan über sein Vorhaben informiert hatte. Von seinen Kollegen erhält Kennedy keine Unterstützung. „Es war ein melodramatischer Auftritt“, sagt ein Pfarrer aus Wicklow, „er hätte statt dessen zur Polizei oder zum Gesundheitsamt gehen sollen.“ Ein Pfarrer aus Dublin spricht Kennedy jede Kompetenz ab: „Was er damit erreichen wollte, ist mir nicht klar.“

Am vorgestrigen Sonntag, eine Woche nach dem Lostreten des Skandals, will Pfarrer Kennedy gar nicht mehr reden. Statt dessen überlegt er, ob er das Gesundheitsamt und ein paar Zeitungen wegen Verleumdung verklagen soll. Dann sagt er aber doch etwas: Die Frau könnte sich ja in den Finger geschnitten und die jungen Männer aufgefordert haben, das Blut abzulecken, fällt ihm ein. Das, fügt er hinzu, habe sie aber bestritten. Die Stadt Dungarvan steht jedenfalls hinter ihm. Die anfängliche Neugierde über die vielen Fernsehkameras ist in Ärger umgeschlagen. Nach der Abendmesse strömen die KirchgängerInnen an den Reportern vorbei und schnauzen sie an: „Laßt unsern Pfarrer zufrieden.“ Und das Lokalblatt macht am Wochenende mit der Schlagzeile auf: „Er hat das Richtige getan.“

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