piwik no script img

Ein bißchen Weltstadt spielen, vielleicht

Piotr Fomenko, Oleg Tabakow und Reso Gabriadse: Moskauer Studiotheater bei den Berliner Festwochen  ■ Von Sabine Seifert

Berlin bietet selten die Möglichkeit, sich wie in einer Weltstadt zu fühlen. Wozu schließlich eine gewisse Internationalität gehört, das Flair der Metropolen. Und daß sich dort Menschen verschiedenster Herkunft bewegen, niederlassen, bemerkbar machen. Daß man ihnen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit begegnet. Berlin ist eine Weltstadt von kleinerem, provinziellem Format, aber mittlerweile eine Metropole des Ostens, in der Zehntausende von polnischen, russischen (und von weiter weg: vietnamesischen) Emigranten leben.

Gastieren dann Schauspielproduktionen in Berlin wie jetzt die Moskauer Studiotheater im Rahmen der Festwochen, dann erscheint nicht nur die Berliner Kulturschickeria, sondern ein interessiertes, russischsprechendes Publikum, das alle Anspielungen versteht. So werden aus Gastspielen auch Heimspiele. Eine Schauspielproduktion in eine fremde Umgebung zu verpflanzen ist für alle Beteiligten eine hochsensible Angelegenheit. Der direkte Zugang mittels Sprache ist vielen Zuschauern verwehrt, sie sind auf Untertitel oder Simultanübersetzungen per Kopfhörer oder Zusammenfassungen im Programmheft angewiesen.

Aktuelle Anspielungen werden nur durch das Gelächter oder Getuschel der Nachbarn registriert, Witze bleiben unbelacht. Jeder Zuschauer hat ein Bild von dem betreffenden Land oder der Kultur im Kopf, das er mit ins Theater bringt; findet er es dort wieder, sagt er: Achtung, Klischee!, findet er es nicht bestätigt, sieht er oft – nichts. Erwartet wird immer etwas Neues. Oder das ganz Traditionelle, das Wiedererkennbare. Was heißt schon Avantgarde? Was in einem Land als abgekaut, abgefeiert, überholt gilt, wird in einem anderen gerade mit Eifer nachgeholt, ausgekostet. Und mit einer anderen Legitimation kommt vielleicht auch ein anderer Ton, eine andere Wahrnehmung zum Tragen. Wissen wir's so genau? Irgendwas sollte jedenfalls von der Bühne herunterwehen, bei einem selbst ankommen. Spielfreude. Oder Experimentiergeist.

Piotr Fomenkos dreistündige Inszenierung von Alexander Ostrowskis Komödie „Wölfe und Schafe“ aus dem Jahr 1875, einer Kreuzung von Molière und Hauptmann, schafft es mühelos, das Publikum bei Laune zu halten. Die Rollen werden ausschließlich von jungen Schauspielern aus Fomenkos Regieklassen gespielt; der Darsteller des Lynjajew (Juri Stepanow) sieht aus wie Peter Lorre, nur mit leicht asiatischem Einschlag, der Jungunternehmer Berkutow wird von Karen Badalow mit dem Aussehen und Charme eines englischen Thronfolgers gespielt.

Alte werden von jungen Menschen gespielt, Gesetztheit durch Skurrilität wettgemacht. Die Schauspieler haben Temperament, sind spielfreudig. Auch wenn von Experimentierlust bei Altmeister Fomenko nicht gerade die Rede sein kann. Er arbeitet rückwärtsgewandt, aber ohne die historische Akribie und Neugierde etwa von Peter Steins Tschechow- Inszenierungen, ohne Melancholie. Ironischer und weniger engagiert.

Das Theaterstudio Oleg Tabakow schickte die „Todesnummer“ nach Berlin: ein Clownsspiel für vier Personen auf dem Theater. Vier Menschen fühlen sich schuldig am Tod eines fünften: flüchten oder standhalten? Der ganze Komplex Mitläufertum, Mitschuld, plötzliche Freiheit, Sehnsucht nach dem Alten, wie wir ihn aus der DDR-Identitätsdebatte kennen, läßt sich unschwer aus der Parabel lesen. Kein Wunder also, daß das Stück in Moskau Erfolg hat. Zumal es in traurig-komische Clownsspiele verpackt ist, die mir stellenweise so kitschig vorkamen wie diese Harlekine mit einer Träne im Auge, die man am Ku'damm erwerben kann, zugekleistert von Michael Nymans sülzig- wuchtiger Musik, die pausenlos im Einsatz war.

Aber es sollte auch leise Abende geben. Der georgische Puppenspieler Reso Gabriadse war vom Berliner Hebbel-Theater eingeladen worden, Skizzen aus seinem neuesten Projekt mit Namen „Wolgalied“ zu präsentieren. 1990 hat er Tbilissi verlassen, arbeitete in der Schweiz und in Frankreich. Jetzt ist er Regisseur am Moskauer Puppentheater Obraszov, wo auch das „Wolgalied“, ein Puppentheaterstück über die Schlacht um Stalingrad, Premiere haben soll. Ein kleiner Sandhaufen in einem Bühnenkasten. Ein Soldat in zerfetzter Kleidung erhebt sich daraus, vom Puppenspieler mit einem Stab an der Hand geführt. Er fährt damit durch den Sand, gräbt Kleiderreste, Militärinsignien, Panzerteile, Überreste des Krieges aus. Begräbt sie zärtlich. Eine Welt en miniature; die Musik ist romantisch, die Szene sehr poetisch.

Mehr als diesen fünfzehnminütigen Prolog wollte Gabriadse nicht vorführen. Mitgebracht hatte er aber seine Puppen, aus Pappmaché und Holz gefertigt, mit Stoff, Haaren, Federn ausstaffiert, mit den skurrilsten Objekten verbunden. Kleine Kunststücke. Die Zuschauer können kommen und sich die Puppen anschauen, anfassen. Die Glieder bewegen, die Augen rollen lassen. Reso Gabriadse hat sein Publikum auf der Bühne des Hebbel-Theaters an Tischen Platz nehmen lassen, er ist bereit zu plaudern. Aber das Publikum ist nicht bereit, ihm zuzuhören. Schweißgebadet steht der Georgier am Ende da, versteht die Ansprüche der Zuschauer nicht, die gekommen sind, um sein Stück – oder Teile daraus – zu sehen, die dafür bezahlt haben.

Was hätte man den Mann alles fragen können; oder den Abend zu einer Werkstatt machen. Statt dessen stürzen sich die enttäuschten Zuschauer am Ende auf seine Puppen. Ansehen, ihnen ihr Geheimnis entlocken. Begrapschen. Ihnen am liebsten die Glieder aus- und die Fetzen vom Leib reißen – nein, das wäre wohl doch nicht im Preis inbegriffen gewesen. Eine vertane Chance, bei einer Aufführung mitzuwirken, die davon handelt, wie man ein Stück aufführt. Ein bißchen Weltstadt spielen, mehr wird doch gar nicht verlangt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen