: Mutterschiff abgekoppelt
■ Tim Renner ist Chef der Plattenfirma Motor Music / Ein Porträt
Seinen Neun-Tage-Bart trägt er als Zeichen des urbanen Workaholics und führt wie selbstverständlich Worte wie „Terms of Reference“ und „Profit and Lost Account“ im Mund. Tim Renner ist knapp über 30 und bereits Chef von Motor Music, ein seit Anfang 1994 in „relativer“ Unabhängigkeit vom „mothership“ Polygram arbeitendes Label.
Über elf Mitarbeiter kann Renner verfügen, die, aufgeteilt in kleine Gruppen oder Zellen, wie man im modernen Marketing offensichtlich zu sagen pflegt, die Bereiche Dance, Indie Rock und Jazz betreuen. Motor ist dabei kein schnuffliger Zweitwagen, den sich der Medienriese Polygram mit über einer Milliarde Jahresumsatz leistet. Bereits im vergangenen Jahr wurde fast ein Viertel des Gesamtumsatzes der deutschen Polydor erwirtschaftet. Einige erfolgreiche, inzwischen der neuen Firma angegliederte Acts wie Element of Crime, Andreas Dorau oder Westbam hatte Renner noch unter Vertrag genommen, als er bei der Polydor für Progressive Music/Jazz zuständig gewesen war.
Geändert hat sich jedoch der Nachdruck, mit dem Renner als Geschäftsführer einer nominell eigenständigen Firma neue Techniken durchsetzen kann. „Große Firmen definieren sich über eine bürokratische Hierarchie und eine Vielzahl von Do's and Dont's, die wir jetzt flexibler auslegen können.“ Motor könne beispielsweise schneller als der „große Tanker Polygram mit seinem wesentlich höheren Moralkodex“ auf dem schnellebigen Dance-Markt agieren und dadurch Veröffentlichungen beschleunigen.
Renner sieht in Mitteln und Philosophie deshalb auch eine Verwandtschaft zu den unabhängigen Labels: „Unsere einzelnen Zellen können mit einer ungeheuren Nähe zum Act arbeiten.“ Anders als bei den Majors mit ihrer üblichen Arbeitsteilung in A&R (Artists & Repertoire), Marketing und Promotion wird bei Motor jeder Künstler von Anfang bis Ende von drei Mitarbeitern betreut, „die sich auch mit diesem identifizieren können“. Künstler und Team sollen eine Einheit bilden. Es ist deshalb bei dem jungen Team kaum denkbar, auf völlige Ahnungslosigkeit zu treffen wie bei anderen Majors mit ihren diversen Sub-Labels.
Vom Plattencover bis zur Presseinfo nicken die Motor-Musikanten alles ab, was neben der Musik noch ihr Image in der Öffentlichkeit ausmacht. „Unsere Künstler müssen lernen, sich neben der Musik noch in anderen Sprachformen wie Marketing auszudrücken“, beschreibt Renner den modernen Künstler-Typus, der um die vielfältigen Anforderungen in einer medialen Gesellschaft weiß. Daß das nicht der einfachste Weg ist, räumt auch Renner ein: „Dann machen wir eben weniger Acts. Aber keiner der Künstler kann hinterher meckern.“
Um noch näher an der Szene dran sein zu können, eröffnete Motor Anfang des Jahres in den Räumlichkeiten des ehemaligen Club 88 an der Reeperbahn den Music Store, in dem seitdem neben den Klamotten von Double Eight auch CDs verkauft werden.
Volker Marquardt
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