Sonnenwunder von Fátima

Wallfahrt auf portugiesisch: Eine Marienerscheinung als Kassenfüller und die Pilgerreise als erbaulicher Anlaß für ein riesiges Piquenique  ■ Von Heike Mrozinski

Den ersten Pilgern begegnen wir auf der Nationalstraße 110 in Tomar, zwei Kilometer hinter der Kleinstadt, bei der Abzweigung nach Fátima, werden es dann immer mehr. Sie scheuen weder Wind noch Regen, noch die Strapazen eines mitunter mehrere Tage dauernden Marsches. Zu Fuß sind sie unterwegs zu der bekanntesten Wallfahrtsstäte Portugals, wo sich jedes Jahr zur gleichen Zeit Hunderttausende einfinden, um der Marienerscheinung zu gedenken. Verkaufsstände am Straßenrand dienen als Rastplatz und versorgen die Pilger mit der nötigen Verpflegung. Für manche der Pilger hat die Pilgerei schon dort ein vorzeitiges Ende gefunden. Mit schmerzverzerrten Gesichtern hocken sie neben den Ständen, begutachten die Blasen und verarzten die geschundenen Füße mit Salben oder kalten Umschlägen.

Fátima liegt im Zentrum Portugals, rund 125 Kilometer nördlich von Lissabon. Benannt wurde das Dorf nach einer maurischen Fürstentochter, die, so heißt es, sich aus Liebe zu einem christlichen Ritter taufen ließ und hier begraben liegt. Doch kaum jemand würde sich in die karge Gegend der Serra d'Aire verirren, und niemand würde über diesen Ort reden, wenn da nicht die mysteriöse Marienerscheinung wäre. Ihr hat Fátima seinen Ruhm, eine monumentale, neoklassizistische Basilika samt riesigem Vorplatz, zahlreiche Kirchenanlagen und – vor allem – Heerscharen von Besuchern zu verdanken.

Am 13. Mai 1917 verließen die Hirtenkinder Lúcia, Jacinta und Francisco wie gewöhnlich das Haus, um die Schafe zu weiden. Gegen Mittag befanden sie sich mit der Herde in einer Talmulde, heute „Cova da Iria“ genannt, als ein gewaltiger Blitz den Himmel durchbrach und die Gottesmutter in Erscheinung trat. Sie forderte die Kinder zum Gebet auf und kündigte an, in den kommenden Monaten am gleichen Tag und zur gleichen Stunde wiederzukehren. Fünfmal soll sich diese Vision wiederholt haben, zuletzt am 13. Oktober 1917. Da hatten sich auf den Hügeln ringsherum bereits siebzigtausend Menschen versammelt, um die Vorkommnisse, die sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatten, mit eigenen Augen zu überprüfen. Sie bezeugten seltsame Lichteffekte und eine feuerrote, rotierende Sonnenscheibe.

Doch bis heute beschäftigt die Menschen weniger die Marienerscheinung als vielmehr der Inhalt der drei Weissagungen, die Maria an Lúcia weitergegeben haben soll. Die erste Prophezeiung besagte angeblich, daß Lúcia in den Dienst Gottes treten solle und daß er Jacinta und Francisco bald zu sich holen werde. Tatsächlich starben die beiden 1919 und 1920. Die zweite Mitteilung war ein Aufruf zur Bekehrung Rußlands – im Jahr der Russischen Revolution ein Appell, der sicherlich vielen aus dem Herzen sprach. Anlaß für vielfältigste Spekulationen ist allerdings der Inhalt der heute immer noch nicht bekannten dritten Botschaft. Auf Drängen des Papstes schrieb Lúcia 1943 den Wortlaut der Offenbarungen nieder. Unveröffentlicht lagert das Papier seitdem in den vatikanischen Geheimarchiven.

In Fátima herrscht ein Treiben wie auf dem Jahrmarkt, und innerhalb weniger Stunden verwandelt sich der kleine Ort in ein Zeltlager. Jede freie Ecke, jede Wiese wird in Beschlag genommen. Zuallererst Wiesen mit Schatten spendenden Bäumen. Sogar in der Parkanlage rings um den „Weißen Platz“ und im Säulengang der Basilika haben die Besucher ihr Lager ausgebreitet und sich häuslich niedergelassen. Auf kleinen Gaskochern dampfen Suppen, braten Fische, und gleich daneben steht die große Flasche Wein. Preiswerte Unterkünfte sind schwer zu kriegen und ohnehin für ausländische Besucher und die Presse reserviert. Also behilft man sich auf diese kommunikative und günstige Art.

Wir stehen mit unserem Wagen auf einer Wiese, eingeklemmt zwischen Bussen, Transportern und Pkws. Laurinda, Maximino und die anderen aus dem Reisebus neben uns kommen aus einem kleinen Dorf der Provinz Trás-os-Montes – was soviel wie „Hinter den Bergen“ heißt –, eine karge, unwegsame Gegend im äußersten Nordosten Portugals, wo, wie unser Geo-Reiseführer zu berichten weiß, noch für Wasser gemordet wird.

Urlaub ist für unsere Nachbarn ein Fremdwort. Doch einmal im Jahr, vom 12. auf den 13. Mai, lassen sie für zwei Tage alles stehen und liegen, setzen sich in den Bus und wallfahren nach Fátima. Nun sitzen sie unter einer alten knochigen Korkeiche und genießen die von zu Hause mitgebrachten Köstlichkeiten: gebratene Sardinen, Stockfischklößchen, eingelegter Tintenfisch, zartes mariniertes Fleisch, selbstgekelterter Wein sowie Mandelkuchen – dank ihrer Gastfreundschaft lernen wir die portugiesische Küche kennen. Wallfahrt auf portugiesisch: ein gigantisches, wundervolles Piquenique!

Während die einen schlemmen, kommen auf dem „Weißen Platz“ die streng Gläubigen zusammen: Nonnen und Ordensbrüder, Kranke, Verzweifelte und Menschen, die sich für die Erfüllung eines Wunsches oder eine „wundersame“ Genesung bedanken wollen. Auf notdürftig geschützten Knien rutschen einige auf dem langen asphaltierten Weg zu der kleinen Erscheinungskapelle. Büßer und Bittsteller, die hoffen, daß Maria, gerührt von diesem Anblick, vergibt und hilft. Daß Schaulustige und Fotografen jeden Zentimeter ihres Bußganges verfolgen, stört sie scheinbar wenig.

Die Andenkenläden haben an diesen Tagen Hochkonjunktur. Die Menschen drängen in die Geschäfte, vor manchen stehen sie sogar Schlange. Eine Devotionalie oder Kerze kauft schließlich jeder. Auf dem Marktplatz am Rande des Ortes tönen portugiesische Schlager und englische Popmusik um die Wette. Fliegende Händler spekulieren auf ein einträgliches Geschäft mit Heiligenbildern, T-Shirts, Decken, Klappstühlen und allerlei Krimskrams. Die Banken, Cafés und Restaurants haben sich ebenfalls auf die Besucher eingestellt und bis tief in die Nacht geöffnet.

Nachdem sie ausgiebig gespeist und geruht haben, kommen die Gläubigen am späten Nachmittag mit Klappstühlen und weißen Kerzen auf dem „Weißen Platz“ zusammen. Mit Anbruch der Dämmerung stehen auf einer Fläche, doppelt so groß wie der Petersplatz in Rom, knapp eine Million Menschen beieinander, und eine feierlich-ernste Stimmung breitet sich aus. Höhepunkt der Nacht vom 12. auf den 13. Mai ist die Lichterprozession. Kerzen werden angezündet, und die kleine, weiße Madonna von Fátima wird durch die Menschenmenge getragen. Immer wieder ist die Bitte des alten Liedes „O Maria hilf...“ zu hören. Elektronisch verstärkt hallt die Predigt weit über den Platz hinaus. Auch das Fernsehen ist anwesend. Live überträgt es die Feierlichkeiten ins portugiesische Wohnzimmer.

Stundenlang wird gesungen, gebetet, gepredigt und den Orgelklängen gelauscht, und erst kurz vor Morgengrauen gehen die Menschen langsam auseinander.

Nicht nur Kirchenkritiker, auch der Vatikan stand dem „Wunder von Fátima“ zuerst reserviert gegenüber. Eine Untersuchungskommission wurde beauftragt, die Vorkommnisse zu prüfen – was den Bischof von Leiria freilich nicht daran hinderte, zwischenzeitlich den Platz der Erscheinung käuflich zu erwerben und im Jahr 1928 mit dem Bau der Basilika zu beginnen. Zwei Jahre später erklärte die Kommission die Erscheinung für glaubwürdig und die Marienverehrung für offiziell gestattet. Die Seligsprechung der verstorbenen Kinder gestaltete sich wesentlich schwieriger. Knapp dreißig Jahre war Pater Ludwig Kondor im Auftrag des Vatikans damit beschäftigt nachzuweisen, daß Jacinta und Francisco ihr kurzes Leben den göttlichen Geboten gewidmet hatten, bis der Papst die Kinder 1989 seligsprach.

Lúcia folgte dem göttlichen Ruf. Seit beinahe fünfzig Jahren lebt die fast Neunzigjährige abgeschottet von der Außenwelt im Karmeliterkloster Santa Teresa in Coimbra. Am 13. Mai 1991 sah man sie zum letzten Mal in der Öffentlichkeit, Seite an Seite mit dem Papst, der nach Fátima gekommen war, um ein Pontifikalamt zu zelebrieren. Pater Kondor ist einer der wenigen Menschen außerhalb des Klosters, der zu ihr Kontakt hat.

Jetzt wartet der Pater nur noch auf ein Wunder, denn die Seligsprechung hat bislang nur vorläufigen Charakter. Was fehlt, ist die nachweisbare Genesung eines unheilbar Erkrankten. Wir dürfen gespannt sein.