: Steiner-Revival
■ Wirtschaftswissenschaftliche Werke der Anthroposophie neu aufgelegt
Das in den letzten Jahren vielbeschworene „Umdenken“, der Goetheanist Steiner hat es im August 1922, am Vorabend von Inflation und Weltwirtschaftskrise, auf dem Felde der Sozialökonomie mit Fachleuten und Studierenden der Ökonomie praktiziert.
In den 73 Jahren seither sind die vierzehn Lektionen und sechs Seminarprotokolle nur selten von Hochschullehrern oder Praktikern der Vergessenheit entrissen worden (Ausnahmen sind u.a. Folkert Wilken, Boris Tulander, Christoph Binswanger, Udo Herrmannstorfer, Hans Georg Schweppenhäuser). Eine öffentliche Debatte über die darin entwickelten Axiome hat es bislang in der Öffentlichkeit nicht gegeben.
Erst in der jüngsten Zeit wächst das Interesse, da die Fruchtbarkeit anthroposophischer Erkenntnisweise auf manch anderen Lebensgebieten zutage getreten ist. Daß weltwirtschaftliche Prozesse auf Dauer nicht Projektionsflächen für Einzelinteressen und Ideologien sein können, hat nicht nur die Zentralverwaltungswirtschaft erfahren, sondern in dieser Erfahrung steht die gesamte westliche Welt mit ihrer zur Absolutheit erhobenen Markt- und Konkurrenzideologie krisenhaft mitten darin.
Steiner agitiert in dem Kursus nicht, sondern charakterisiert diese weltwirtschaftlichen Prozesse, so daß die Schäden nur statischer oder partiell richtiger Begriffe sichtbar werden. Folglich zeigt er Wege auf, wie die Unverkäuflichkeit von Arbeit, von Produktionsmitteln und Grund und Boden durch Gliederung der Prozesse organisiert werden kann. Das Unangenehme an seiner Denkweise für heutige Denkgewohnheiten ist, daß er die Ultima ratio des Staats- (oder Superstaats-)apparates längst überwunden hat! Folglich werden aus Steuern, die er volkswirtschaftliche Zwangsschenkungen nennt, freie Schenkungen seitens der assoziierten Verbraucher-Verteiler-Produzenten. Und das Lohnverhältnis wandelt sich in ein Teilungsverhältnis Gleichberechtigter; das Kreditwesen hat als Sicherheit nicht Liegenschaften, sondern statt dessen Tüchtigkeiten.
Da in deutschen Landen selbst nach zwei Weltkriegskatastrophen das geistige öffentliche Leben verstaatlicht blieb und in neuerer Zeit der Ausweg in der Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Funktionen gesucht wird, sind die skizzierten „Umdenkungen“ wohl undenkbar.
Sagte nicht schon Ende der siebziger Jahre Christoph Binswanger in einem in dieser Zeitung abgedruckten Interview: Die Dreigliederung des sozialen Organismus impliziere eine größere gesellschaftliche Umwälzung als die bolschewistische Revolution im zaristischen Rußland?
Kurs und Seminar Rudolf Steiners sind im R. Steiner Verlag als Sonderausgabe erschienen und im Fachbuchhandel einzusehen. (Das Werk kostet 41 Mark.) Manfred Kannenberg-Rentschler
Der Autor ist Buchhändler und Volkswirt in Berlin sowie gelegentlicher taz-Leser.
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