Der Opfer-Effekt

■ Helmut Zander fordert die Anthroposophische Bewegung auf, sich den Rassismen in Steiners Werk zu stellen

Wer einmal Opfer war, ist sensibel geworden. Und sensibel reagieren AnthroposophInnen nun wirklich, wenn unter ihnen rechte Tendenzen ausgemacht oder AnthroposophInnen sogar als NationalsozialistInnen identifiziert werden. Man kann das verstehen: 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten, die Tochterbewegungen im Lauf der NS-Zeit liquidiert. Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Materialien, Verhaftungen: Ältere AnthroposophInnen wissen, was Verfolgung bedeutet – keine Frage.

Aber die Opferperspektive hat dazu verführt, die eigenen Wurzeln nicht kritisch unter die Lupe zu nehmen. Man hat vor allem nicht gefragt, wieweit Rudolf Steiner zu einem mentalen Hintergrund gehört, aus dem sich viele Völkische, unvermeidlicherweise auch Nationalsozialisten, versorgt haben. Dabei liegen Steiners Rassismen – ein Teil seiner Evolutionsvorstellungen – offen zutage. Indianer etwa bezeichnet er als „degenerierte Menschenrasse“ im „Hinsterben“ oder „Neger“ als Zwischenprodukt der Evolution: „Soll Goethe die gleichen Bedingungen haben wie ein beliebiger Hottentotte? Sowenig wie ein Fisch die gleichen Voraussetzungen hat wie ein Affe, so wenig hat der Goethesche Geist dieselben Vorbedingungen wie der des Wilden.“ Und das Judentum hat nach Steiner seine Funktion erfüllt – ein klassischer Fall von Antijudaismus.

Man kann solche Aussagen abschwächen, in dem man darauf verweist, daß Steiner alle Rassen für Übergangsphänomene hielt (was aber den heute lebenden „Negern“ keinen besseren Status verschafft); man kann auch den Individualismus der „Philosophie der Freiheit“ hochhalten (doch die Äußerungen zu „Negern“ und Indianern datieren später). Und sicher gehörte so etwas zum Zeitgeist der kolonialen Ära. Aber – Rassismen hat Steiner ein Leben lang von sich gegeben, in zunehmend drastischen Formulierungen übrigens gegen Lebensende.

So tauchen AnthroposophInnen nicht nur (aber glücklicherweise oft) als ökobewußte Demeter-Bäuerinnen oder gesellschaftskritische Bankengründer auf, sondern so manche(r) wandert in Steiners völkischen Spuren: 1983 noch mutmaßt Heinz Eckhoff über die Charakteristika der „europäischen Volksseelen“ und des „Schweizer Volksgeistes“. Angesichts solcher Äußerungen die Vermutung zu wagen, „daß viele heutige Anthroposoph/innen wohl auch rassistische Ansichten haben“, überlasse ich Tatjana Kerl, die der Anthroposophie zumindest nahesteht.

Die Koexistenz von linken Sozialreformern und rechten Volksseelenkundlern unter AnthroposophInnen macht deutlich, daß mit Steiner fast alles belegbar ist. Dazu gehört Bemerkenswertes wie seine spirituelle Deutung der Welt oder seine Anregungen zu einer naturgemäßen Landwirtschaft – aber eben auch Rassistisches. Man muß fairerweise festhalten, daß viele AnthroposophInnen Steiners Rassismen in der Praxis nicht verwenden, im Gegenteil. Aber unübersehbar bleibt, daß es im Keller von Steiners schwer überschaubarer Gesamtausgabe an vielen Stellen sumpfig ist.

Steiner war ein oft widersprüchlicher Mensch, und hier liegt das Problem für AnthroposophInnen tiefer, als es nach außen scheint. Die Lösung, die man als leichtsinniger Exoteriker vorschlagen möchte, Gutes zu bewahren und Schlechtes rauszuwerfen (nach dem Muster: Weleda ja, Rassismen nein), funktioniert nämlich im Grunde nicht. Steiner hatte seine Aussagen nicht (nur) als Debattenbeiträge verstanden, sondern vieles durch „Schau“ in höhere Welten „offenbart“. Und zu den Nachrichten aus dem Weltgedächtnis zählen auch seine Rassenvorstellungen. Fängt man an, einen Teil seiner „hellseherisch“ gewonnenen Ergebnisse in Frage zu stellen, droht ein Domino-Effekt: es ist unklar, was von Steiners Vorstellungen dann bleibt. Revidiert man nicht, drohen Rassismen als Dauerbrenner. Hier liegt, wie ich meine, das Untergrundproblem anthroposophischer Rassentheorien: der weitgehend unkritische Umgang mit Steiners Werk hat seine Weltanschauung und damit die Grundlage der Anthroposophischen Gesellschaft bislang stabilisiert.

Die Debatten der letzten Jahre zeigen aber, daß es Bewegung gibt und manches bei Steiner als belastend empfunden wird. In Stellungnahmen zur Lage der Anthroposophischen Gesellschaft kritisierten Mitglieder 1994 gleich mehrfach anthroposophischen Dogmatismus und die Musealisierung Steiners. Aus dem Kreis der Priester der Christengemeinschaft (die aber nicht notwendig Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft sind) hört man, daß Steiner „nicht die letzte Wahrheitsquelle“ sei. Wenn dies Anzeichen für eine Revisionsbereitschaft für Steiners Werk sind, könnte man auf eine Klarstellung (mir wäre lieber: eine Absage) in Sachen Rassismen hoffen. Aber dies würde, wie gesagt, zuerst einmal alles in Frage stellen.

Der Autor: geb. 1957, Politikwissenschaftler und Theologe, schrieb zahlreiche Aufsätze zum Thema.