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Lassen Sie sich nicht düpieren!

Vieles läuft wieder schief in Ruanda. Das stark engagierte Deutschland darf jetzt nicht schweigen. Offener Brief an Außenminister Kinkel  ■ Von Rupert Neudeck

Sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Herr Kinkel,

das war ein wunderschönes Bild, das wir Mitreisende bei Ihrem Besuch in Ruanda Anfang August mitbekamen. Am ersten Abend hatte die Regierung des Landes eingeladen in das Hotel „Mille Collines“ über den Dächern der Hauptstadt Kigali. Es begann mit einer kraftvollen nichtelektronischen Drummer-Band, die eine Mischung von Lautstärke und Kunst produzierte, wie man sie in den Discos und Stadien Europas nie mehr hat. Im tropischen Garten des „Mille Collines“ waren die deutschen Besucher fasziniert von der Kraft Afrikas, von der Kunst der Trommeln und den Trommlern, die noch keine Verstärkeranlage brauchen.

Am nächsten Tag empfingen Sie selbst 300 deutsche Entwicklungshelfer und tout Kigali im gleichen Hotel. Die wichtigsten Gespräche wurden mit den beiden wichtigsten Leuten der neuen Regierung geführt: Paul Kagame, Vizepräsident und, wie man in Militärkreisen sagt, genialer Stratege, würdig des vietnamesischen Guerillaführers Nguyen Vu Giap und jetzt, wie man sehen konnte, ein zivil gekleideter Politiker. Und Faustin Twagiramungu, Premierminister, von dem Ihr Afrika-Beauftragter Harald Ganns mit seiner schönen afrikanischen Direktheit immer bewundernd sagt: Ja, wenn man mal mit dem Twagiramungu allein reden kann, dann bekommt man noch viel mehr und Vertrauliches zu hören.

Das waren die beiden, auf die sich die Bundesregierung bei ihrer neuen Politik stützte wie auf zwei Dioskuren, der eine ein Tutsi, der andere ein Hutu. Der eine von der RPF, der Ruandischen Patriotischen Front, der andere ein Mann der größeren Hutu-Partei MDR.

Sie wurden nicht müde, Herr Kinkel, die neue Rolle der Deutschen als Ruandas Fürsprecher in der Europäischen Union herauszustellen. Mit zwei Essentials: Die Regierung in Kigali müsse in Richtung der beiden Länder neue vertrauensbildende Signale aussenden, in denen Millionen Ruander in elenden Flüchtlingslagern leben – Zaire, das über 1,2 Millionen beherbergt, und Tansania, das über 800.000 untergebracht hat. Und die Regierung in Kigali solle anfangen, aus den Gefängnissen sofort die Kinder, die Schwangeren und die Kranken herauszubringen; es sollten erste Urteile ergehen, damit es erste Entlassungen und Sicherheiten für die Gefangenen geben würde; und Sie wollten überlegen, ob Sie nicht sehr unkonventionell einige Staatsanwälte und Richter auch aus Deutschland besorgen könnten, die Ruandas ausgebluteter Justiz helfen könnten.

Die Entwicklung in Ruanda in der Zeit seit Ihrem Besuch ist ernüchternd bis makaber. Und man sollte davon nichts verschweigen. Deutsche Diplomatie und deutsche Entwicklungspolitik haben sich zu Recht sagen lassen müssen, wie unkritisch sie zwanzig Jahre dem früheren Regime des Präsidenten Juvénal Habyarimana in treuer Kumpanei gedient haben. Die Deutsche Welle und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die Rheinland-Pfalz-Partnerschaft und die Botschaft – sie alle waren dem Clan des Präsidenten bis hin zu den Tee-Einladungen verbunden.

Deshalb waren ja auch die Deutschen in Ruanda so entsetzt über das Massenmorden, das da im Morgengrauen des 7. April 1994 begann und monatelang mit derartiger Gewalt und Furie durchgezogen wurde, daß mich Experten der Massenmorde in Europa – zum Beispiel Jörg Friedrich, Autor mehrerer Bücher über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland – immer noch ungläubig fragen: „Wie kann man denn in zwei bis drei Monaten eine Million Menschen ermorden, zerhacken, erwürgen, ersäufen – das ist ja schon rein physisch eine, positivistisch gesagt, imponierende Leistung?“

Jetzt haben wir den Anfängen zu wehren. Anfängen, die mit mangelnder Offenheit und windiger Kompromißbereitschaft zu tun haben.

Wenige Tage nur nach Ihrem Besuch wurde der neben Paul Kagame wichtigste Gesprächspartner, Faustin Twagiramungu, abserviert. Ein Vertreter Ihres Auswärtigen Amtes sagte mir mit treuem Augenaufschlag, man habe verlangt, daß dem Ex-Ministerpräsidenten nichts passiere. Aber lachend fügte er hinzu, die Polizeitruppe vor dessen Hause könne auch bedeuten, daß Twagiramungu de facto unter Arrest stehe.

Die Botschaft Ruandas beeilte sich, zur offiziellen Begründung des Sturzes zweierlei zu erklären: Erstens sei der neue Premier auch ein Hutu – das beruhigt schon mal! – und zweitens sei Twagiramungu „faul“ gewesen, habe seine Hausaufgaben nicht zur Zufriedenheit der RPF-Regierung gemacht. Bei den Tischreden im „Mille Collines“ las man das noch anders.

Die Kranken und die Gebrechlichen und die Kinder sind nicht aus den Gefängnissen entlassen worden. Die deutsche Regierung hat statt dessen mit etwas Bedenklichem begonnen: Sie hat neue Gefängnissäle bauen und Räume renovieren lassen – ohne die klare und kontrollierte Sicherheit, daß es erst mal keine neuen Verhaftungen gibt. „Das neue, für 5.000 Gefangene konzipierte Gewahrszentrum Nsinda, an dessen Einrichtung sich auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) aus humanitären Erwägungen beteiligt hat, steht kurz vor der Fertigstellung“, heißt es in einem Brief des Auswärtigen Amtes vom 13. September 1995. Und die ruandische Regierung, heißt es da, hat dem Afrika-Beauftragten des Auswärtigen Amtes, Harald Ganns, „glaubwürdig versichert, daß sie zusätzlichen Gefängnisraum nicht zur Belegung mit neuen Häftlingen mißbrauchen wolle und die Entlassung Unschuldiger sowie minderschwer Belasteter, soweit sie haftunfähig sind (Kinder, alte Leute, Kranke), plane“.

Aber ohne einen Verhaftungsstopp oder die Zusicherung, daß neue Häftlinge nur in einem wirklichen Verfahren eingeliefert werden können, das rechtsstaatlich genannt zu werden verdient, dürfte Deutschland nicht neue Gefängnisse bauen und damit die Zahl der ohne förmliches Verfahren Eingelochten erhöhen.

Vertrauensbildende Maßnahmen gibt es – aber nur als Worthülsen. Der neue Ministerpräsident Ruandas, Pierre-Célestin Rwigyema, seit dem 31. August im Amt, hat auf die Frage von Radio France International, was die Regierung tun werde, falls Zaire nach dem 31. Dezember massenhaft ruandische Flüchtlinge ausweise, gesagt: „Wir werden sie aufnehmen, mit offenen Armen aufnehmen!“

Tatsächlich geschah aber am 11./12. September in der Nähe von Gisenyi an der Grenze, in Kanama, erneut ein Massaker, bei dem 103 Ruander ermordet wurden, meist Frauen und Kinder. Bis zum 13. September wurde aus offiziellen Quellen aus Kigali signalisiert, daß es wohl einen furchtbaren Überfall der Mördermilizen gegeben habe, über die Grenze seien diese eingedrungen und hätten diesen Massenmord angerichtet. 24 Stunden später erfuhren wir, daß es genau umgekehrt war: Es war die neue Armee Ruandas, die hier an unschuldigen Menschen, an Bürgern des neuen Ruanda, ein Massaker angerichtet hatte.

Aus dieser Situation müssen Konsequenzen gezogen werden. Deutschland darf kein blinder Fürsprecher sein. Ich meine nicht, daß die Hilfe für Ruanda gestundet oder gar gestrichen werden soll. Aber ihre Ziele und Bedingungen müssen klar sein.

So müßte rasch mit der Ausbildung einer Polizei begonnen werden, um das Handeln der Armee einzuschränken – eine Armee, die überall Machtfaktor Nummer eins ist und bei der man auch nicht mehr weiß, ob Paul Kagame sie noch so kontrolliert, daß es noch seine Armee ist.

Es müßte der erste Prozeß gegen einen der Verbrecher beginnen. Die Anstifter des Völkermordes, die in Nairobi, Paris, Zürich oder auch in Deutschland sitzen, müßten bekannt werden, es müßte Auslieferungsbegehren geben, damit das Gerechtigkeitsgefühl der Ruander nicht weiter beleidigt wird.

Aber wenn Sie fordern, daß hundert Kranke aus dem Gefängnis von Kigali herauskommen, dann sollten die auch in ein Krankenhaus gebracht werden. Was ist tatsächlich geschehen? Der Afrika-Beauftragte Harald Ganns hat Ende August Ruanda erneut besucht und sich dabei fünf Gefängnisse angesehen. In Gitarama sind 200 bis 300 Kranke in ein Krankenhaus überführt worden. Von der Bundesregierung und dem IKRK wird ein Zelt-Gefängnis als Notunterkunft, im Bürokratendeutsch „Gewahrszentrum“ für 5.000 Gefangene gebaut. Man geht in Bonn nicht davon aus, daß es keine neuen Verhaftungen mehr gibt, sondern hofft nur, daß die ruandische Seite nicht mehr im gleichen Tempo verhaftet wir bisher.

Sie, Herr Kinkel, haben sich in der Frage der Hilfe für Ruanda, das einen so gräßlichen Massenmord noch lange nicht verarbeitet hat, so unkonventionell und persönlich eingebracht, daß Sie sich jetzt ganz eindeutige Garantien geben lassen sollten, die verhindern, daß Ihre Politik so verwässert wird.

Die Armee in Ruanda muß diszipliniert werden, die Verantwortlichen für das erneute Massaker in Kanana müssen in einem öffentlichen Verfahren verurteilt werden, zu dem nicht nur der deutsche Botschafter Zugang hat, sondern auch Menschenrechtsbeobachter und Journalisten. Es nutzt leider nichts, eine Untersuchungskommission einzusetzen, solange die Regierung von „übertriebener Gewalt“ der eigenen Soldaten spricht. Wo genau liegt bei der Ermordung von 103 Bürgern des eigenen Landes die „Übertreibung“?

Der Spielraum und die Machtfülle der Armee darf nicht so weit gehen, das Gerichts- und Rechtssystem Ruandas einzuschüchtern. Der Staatsanwalt Udo Gehring, der drei Monate in Ruanda gearbeitet hat, erklärte, es liege weniger an materiellen Mitteln, daß in Kigali und außerhalb an den Gerichten nichts laufe, sondern in erster Linie am fehlenden politischen Willen. Die Armee setzt die Justiz schachmatt, verhindert, daß die beiden existierenden Kammern Urteile fällen, daß die Staatsanwälte arbeiten. Ein Teil der Armee meint, es gebe ein bis zwei Millionen Mörder, „und wir kriegen sie!“

Vizepräsident und Verteidigungsminister Paul Kagame muß seine Armee disziplinieren und in die Rolle einweisen, die ihr jetzt nach dem Sieg über eine Massenmord-Armee zusteht: Die Verteidigung der Grenzen des neuen Ruanda gegenüber den Soldaten der alten Präsidentengarde Habyarimanas und der alten Interahamwe- Mördermiliz, die sich in Zaire sammeln und trainieren. Die Armee darf weder Verhaftungen vornehmen noch Denunziationen nachgehen. Solange das noch der Fall ist – und jeder in Kigali weiß das – hilft es nichts, neue Gefängnisse zu liefern oder Richter und Staatsanwälte ohne Mandat zu schicken.

Unsere eigene Erfahrung mit Ruandas neuer Justiz begann am 24. September 1994. An diesem Tag fuhr das Medizinerteam von Nyamasheke im Südwesten des Landes mitsamt dem ruandischen Arzt Egide Imanibili nach Kigali, wo Egide zu einigen Bekannten gehen wollte. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen. Der deutsche Botschafter übernahm diesen Fall, und gegen jedes Protokoll erwähnte er ihn bei der Zeremonie zur Überreichung seines Beglaubigungsschreibens. Aus dem Büro des Premierministers wurde ihm gesagt, der Fall liege bei den „zuständigen Behörden“. „Wer ist das?“ fragte der Botschafter direkt. Die Antwort, die leider bis heute gilt: „Beim Verteidigungsministerium!“

Solange sich die deutsche Politik mit solchen Antworten zufriedengibt, wird sie nichts Entscheidendes erreichen. Die Bundesregierung und Sie selbst, Herr Kinkel, müssen sich ersparen, düpiert zu werden.

Die Sympathie für das neue Ruanda habe ich nicht verloren. Mit großer Freude erlebte ich einst die RPF als Befreiungsbewegung, die in die Tradition der moralisch und diszipliniert handelnden Befreiungsbewegungen Äthiopiens und Eritreas und auch der „Nationalen Widerstandsarmee“ (NRA) in Uganda einzuordnen war. Ugandas Präsident Yoweri Museveni, der kluge und neben Nelson Mandela geschickteste Staatsmann Afrikas, hat die NRA in seinen Staat so eingebaut, daß sie kein Staat im Staate wurde. Daran könnten sich Paul Kagame und die neue Führung in Ruanda ein Beispiel nehmen.

Noch ist die politische Realität in Ruanda davon meilenweit entfernt. Es geht nicht um uns. Es geht um die Zukunft Ruandas, um die Zukunft derjenigen, die glücklich davongekommen sind und derjenigen, die im Elend vegetieren.

Mit freundlichen Grüßen Ihr Rupert Neudeck

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