Nur zu unser aller Wohl

Ob Bilderverbote, „Sprachregelungen“ oder gleich eine Änderung des „First Amendment“ der Verfassung: Amerikas Linke hat sich im Großangriff auf die Presse- und Redefreiheit längst mit den Rechten kurzgeschlossen  ■ Von Anthony Lewis

First Amendment: Zusatz der amerikanischen Verfassung, sich in Wort und Bild unabhängig von Rasse, Religion und Geschlecht frei äußern zu können

Als die kalifornische Stadt Berkeley 1993 vorschlug, ein heruntergekommenes Hotel für die Unterbringung von Obdachlosen zu nutzen, erhoben drei Anwohner aus der Nachbarschaft Einspruch. Sie befürchteten, daß die Drogenabhängigen, Alkoholiker und geistig Behinderten unter den Obdachlosen für die Kinder der Gegend zum Problem werden könnten.

Daraufhin begann das U.S. Department of Housing and Urban Development (HUD; Abteilung für Wohn- und Stadtentwicklung) mit einer umfänglichen Untersuchung. Es verlangte Kopien allen Materials, das die drei Gegner je über das Projekt veröffentlicht hatten, eine Aufstellung der Treffzeiten der Nachbarschaftsgruppe und deren Mitgliederliste. Schließlich drohte das HUD allen drei Personen mit hohen Bußgeldern und Haftstrafen wegen Verstoßes gegen den Fair Housing Act, ein soziales Wohnungsprogramm.

Dieser und andere Fälle sind Beispiele eines neuen Phänomens in Amerika: der Versuch der politischen Linken, die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Im Namen des liberalen Grundsatzes, Wohnraum gerecht zu verteilen, bestrafte das HUD im beschriebenen Fall seine Gegner dafür, daß sie eines der fundamentalsten Rechte des First Amendment in Anspruch nahmen: das Recht, sich gegen die Regierungspolitik in geschriebenem und gesprochenem Wort zu äußern.

Repressives – gewöhnlich von rechts

Dabei kamen die wiederholten Anwandlungen von Repression in der amerikanischen Geschichte gewöhnlich von rechts. Schon 1798 verabschiedeten die Föderalisten ein „Aufwiegelungsgesetz“, das die Kritik am Präsidenten unter Strafe stellte. Sogar Kongreßmitglieder, die die von Jefferson geführte Opposition unterstützten, wurden wegen bloßer Verspottung von Präsident John Adams verurteilt und inhaftiert.

Während des Ersten Weltkriegs wurden Kriegsgegner aufgrund eines neuen „Spionagegesetzes“ verurteilt. Eugene V. Debs, fünfmaliger Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei, wurde für eine Rede, in der er pazifistische Bedenken äußerte, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Während des Kalten Krieges folgten Jahrzehnte antikommunistischer Hysterie. Führer und Mitglieder der Kommunistischen Partei wurden inhaftiert und ihre First-Amendment- Klagen vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof) mit Begründungen abgewiesen, die heute nur noch peinlich sind. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte hätten wohl die wenigsten derart massive Infragestellungen der Meinungsfreiheit von links erwartet. Aber mit zahllosen aktuellen Beispielen, deren Spektrum von ernst bis grotesk reicht, läßt sich inzwischen belegen, daß dies längst Realität geworden ist.

So besetzten vor einigen Jahren schwarze StudentInnen aus Protest gegen eine Kolumne in der Studentenzeitung The Daily Pennsylvanian deren Redaktionsräume und zerstörten 14.000 Zeitungsexemplare. Die Aktion wäre vielleicht als studentische Dummheit durchgegangen, hätte nicht die National Conference of Black Lawyers, eine nationale Vereinigung schwarzer RechtsanwältInnen, den studentischen Protest verteidigt. Die Zeitungskolumne sei „darauf angelegt“ gewesen, „psychischen Druck auszuüben“. Aber hätten die StudentInnen die Zeitung nicht einfach nicht lesen können? Nein, befanden die RechtsanwältInnen, denn „das Wissen um die ständige Veröffentlichung von beleidigendem Material durch die Zeitung macht schon die Feststellung seiner bloßen Anwesenheit zu einer verstörenden Erfahrung“.

Nanny-Philosophie und Sprachcodewahn

Diese Argumentation ist ein wunderbares Beispiel dafür, was man als Kindermädchen-Philosophie bezeichnen könnte: daß die Empfindlichkeit der Leute durch Zensur geschützt werden müsse oder durch die schlichte Unterdrückung von Sachverhalten, die sie beleidigen könnten. Die gleiche Idee liegt auch den sogenannten Sprachcodes zugrunde, die sich eine Reihe amerikanischer Universitäten in den letzten zehn Jahren verordnet haben. Diese Codes sorgen für die Bestrafung beleidigender Äußerungen gegenüber Rasse, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung usw. der StudentInnen untereinander; sie sollten speziell AfroamerikanerInnen das Leben auf dem Campus erträglicher machen.

Aber an der Universität von Michigan mußte man die Erfahrung machen, daß der Vorwurf, Sprachcodes zu verletzen, meist ausgerechnet afroamerikanische StudentInnnen traf. Mitglieder des Britain's Race Relations Act zur Untersuchung von Rassenverhältnissen hätte das wohl wenig überrascht: deren Kritik an rassistischer Sprache war oft dazu benutzt worden, Anwälte der Black-Power- Bewegung zu verfolgen.

Aber sowohl der Code der Universität von Michigan wie der an der Universität von Wisconsin wurden von Bundesgerichten für nicht verfassungsgemäß befunden. In beiden Fällen wiesen die Richter die Auffassung zurück, in das First Amendment müßten Ausnahmen aufgenommen werden, um mit diesen Einschränkungen für ein gesünderes Lernklima an den Universitäten zu sorgen.

Das First Amendment schützt die Rede- und Pressefreiheit nur vor Einmischung durch Regierungsinstitutionen, wozu auch staatliche Universitäten gehören. Die Verfassung deckt allerdings nicht die Unterdrückung an privaten Universitäten wie zum Beispiel Stanford, wo eine der einflußreichsten Sprachregelungen übernommen wurde. Aber Kalifornien verabschiedete einen Gesetzentwurf, der dafür sorgte, daß private Universitäten mit denselben Rechten auf freie Rede geschützt werden wie öffentliche Institutionen unter dem First Amendment. Folglich befand ein Staatsrichter den Stanford-Code vor diesem Gesetz für ungültig. Die Universitätsvorsitzenden beschlossen, mit sichtlicher Erleichterung, nicht in die Revision zu gehen.

Der Sprachcodewahn betrifft aber auch Fakultätsmitglieder. So wurde J. Donald Silva, Professor an der University of New Hampshire, suspendiert, nachdem sich einige seiner StudentInnen darüber beschwert hatten, daß sie sich durch den Gebrauch von sexuellen Metaphern in seinem Literaturkurs sexuell belästigt fühlten. Ein Staatsrichter befand, Silvas Bestrafung verletze das First Amendment; die Universität löste den Fall, indem sie rückwirkend Silvas Gerichtskosten zahlte und ihn wieder in die Fakultät aufnahm.

PorNo-Kampagne und Recht der Mächtigen

Fälle wie dieser führten zu dem oft mißbrauchten Begriff politically correct. Konservative hatten ihre Freude daran, sich über die PC- Exzesse der Liberalen lustig zu machen, aber zweifellos war die konservative Kritik gelegentlich bewußt überzogen, um damit politische Wirkung zu erzielen. Doch das Phänomen existierte, und es wurde allmählich gefährlich – um so mehr als besagte Kindermädchen-Philosophen darauf beharrten, daß sie doch bloß zu unser aller Wohl zensierten. Der Schriftsteller David Lodge faßte einmal treffend zusammen, die Phrase political correctness beinhalte „die gesamte dogmatische, puritanische und engstirnige Arroganz, die Menschen dazu brachte, der revolutionären Politik von Robespierre bis heute zu mißtrauen“.

Ein weiterer Bereich für die Zensorentätigkeit von Leuten, die ansonsten politisch liberal sind, ist bekanntlich die Pornographie. Hier heißt die entscheidende juristische Innovatorin Catherine MacKinnon, Professorin an der University of Michigan Law School. Sie argumentiert, die in der amerikanischen Gesellschaft um sich greifende Pornographie präge das Leben der Frauen. Deshalb sollte das First Amendment so ausgelegt werden, daß es auch gewisse Vorgehensweisen gegen die Pornographie erlaubt. Während ein staatliches Urteil eine städtische Anordnung, die sich auf MacKinnons Ansichten berief, für nicht verfassungsgemäß erklärte, übernahm der oberste kanadische Gerichtshof ihren Ansatz zur Überprüfung pornographischen Materials. Doch ähnlich wie im Fall der universitären Sprachcodes erwies sich dieser Erfolg als Pyrrhussieg: Die kanadische Polizei rührte sich einzig, um „lesbische Bücher“ zu beschlagnahmen.

Pornographie ist natürlich weder allein Catherine MacKinnons Anliegen noch das der anderen Linken. Bei diesem Thema trifft sich links und rechts. Senator Jesse Helms geißelte das National Endowment for the Arts, die nationale Kunststiftung, für die – mäßige – Förderung einer Ausstellung von Robert Mappelthorpes Fotografien mit homosexuellen Motiven; und konservative Behörden erstatteten Anzeige gegen eine Galerie, die sie gezeigt hatte – die Geschworenen erteilten allerdings Freispruch. Konservative Senatoren versuchen außerdem, Benutzer von Online-Diensten zu Objekten strafrechtlicher Verfolgung wegen Vorführens pornographischer oder anzüglicher Abbildungen zu machen.

Einen weiteren Frontalangriff auf das First Amendment starteten einige linke Rechtsprofessoren. Das ganze Geschwätz über Meinungsfreiheit, so ihre Argumentation, übersieht die realen Machtverhältnisse: Die amerikanischen Medien werden vom Big Business dominiert; ihr Getöse bringt Frauen, Schwarze und andere, die nicht Teil des herrschenden Systems sind, zum Schweigen; es gibt keine Meinungsvielfalt. Richard Delgado von der University of Colorado meint, daß „das mächtige First Amendment“, wie er es sarkastisch nennt, „nur die Herrschenden bevorteilt... Man merkt, daß die eigenen Worte nicht frei sind, wenn man die Reichen oder Mächtigen angreift.“

Kathleen Sullivan, Professorin an der Stanford Law School und eine Expertin in Sachen First Amendment, antwortete auf diese Mutmaßungen linker Kritik, daß die Regierung die Macht der Sprache durch Verbote neu verteilt: „Wenn das Problem der privaten Ordnung darin besteht, daß Schweigen die Meinungsvielfalt reduziert hat, wird dieses Problem nicht notwendigerweise durch einen Regierungserlaß gelöst, der festlegt, welche Meinung zulässig ist. Es ist doch psychologisch völlig unsinnig, Menschen dazu zu zwingen, ,anders zu denken‘. Das ist gerade so, wie jemandem zu befehlen, ,sich zu entspannen‘.“

Henry Louis Gates Jr., der führende afroamerikanische Literaturwissenschaftler, lehnt die gegenwärtige Tendenz unter einigen schwarzen Intellektuellen ab, sich von den Freiheiten des First Amendment mit der Begründung zu verabschieden, sie seien nicht hilfreich für Schwarze und darüber hinaus ein Hindernis bei der Bekämpfung von hate speech. Das First Amendment, erinnert Professor Gates seine LeserInnen, ist doch „genau der Verfassungszusatz, der Proteste, Demonstrationen, Organisationen und Agitation zuließ“ – wie etwa die von Martin Luther King und anderen, die die alte Rassenordnung im Süden so drastisch verändert haben.

Patriotismus als Steckenpferd

„Während die Feinde der freien Meinungsäußerung früher Patriotismus, Gesetz und Ordnung, McCarthyismus, Kapitalismus und Jim Crows Rassismus hießen“, faßt Professor Sullivan die Bedrohungen der mit dem First Amendment festgelegten Freiheiten zusammen, „kommen die zeitgenössischen Anwälte der Sprachregelungen größtenteils aus dem linken Spektrum.“ Größtenteils, aber nicht völlig. Denn die Rechte reitet auch weiterhin ihre alten repressiven Steckenpferde.

Zum Beispiel den Patriotismus. Er ist eine ständige Ursache für die zugleich bedrohlichsten und frivolsten Angriffe auf die amerikanische Tradition der Offenheit. Patriotismus wird derzeit als Verfassungszusatz vorgeschlagen, um die gesetzliche Verurteilung von jedem zu ermöglichen, der die amerikanische Flagge entwürdigt.

Dieser Zusatz wurde bereits vom Repräsentantenhaus mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet. Wenn der Senat einwilligt, wird er an die Staaten zur Ratifizierung weitergeleitet – und die Chancen stehen gut, daß sie mit der erforderlichen Dreiviertelmehrheit zustimmen werden. Die einzige Möglichkeit, die Verfassung von solch beschämenden Trivialitäten freizuhalten, besteht darin, daß über ein Drittel der hundert Senatoren diesem patriotischen Appell an Apfelkuchen und Mutterschaft widerstehen.

Der Vorschlag soll natürlich dazu dienen, Entscheidungen des Supreme Court ablehnen zu können, die unter Berufung auf das First Amendment solchen Personen Schutz gewähren, die die Flagge als politisches Statement verbrannt haben. Aber diese Fahnen-Abfackler waren einige wenige Exzentriker, und die Entweihung der Fahne sollte doch wohl eine der geringsten Bedrohungen des amerikanischen Wohlstands und Selbstbildes darstellen. In diesem Sinne ist dieser Verfassungszusatz frivol. Doch es wäre bei weitem noch frivoler, eine Ausnahme in die Freiheitsgarantien des First Amendment einzuschreiben – die erste seit zweihundert Jahren.

Eine ähnlich ernsthafte Bedrohung der Werte des First Amendment entsteht auch durch Gesetzesinitiativen, die den internationalen Terrorismus bekämpfen wollen. Hier verwischt sich die Rechts-links-Unterscheidung vollends, weil Präsident Clinton einer der Hauptunterstützer dieser Gesetzgebung gewesen ist. Er schlug einen Terrorismus-Abwehr-Plan vor, der dem Präsidenten erlaubt, Gruppen als „Terroristen“ zu bezeichnen. Es wäre dann ein Verbrechen, solchen Gruppen Geld zu spenden – egal wofür.

Obwohl seine Hauptaktivitäten politisch waren, verübte zum Beispiel der Afrikanische Nationalkongreß in den Jahrzehnten der Apartheid in Südafrika auch Guerilla-Anschläge. Nach dem Clinton-Erlaß wäre der ANC eine terroristische Vereinigung gewesen, und jeder, der 5 Dollar bei einer ANC-Cocktailparty ausgegeben hätte, wäre damit zum Verbrecher geworden. Der Druck für eine Anti-Terrorismus-Gesetzgebung wuchs nach dem Bombenanschlag von Oklahoma City – obwohl er anscheinend das Werk eines oder mehrerer einheimischer Extremisten war und nicht einer internationalen Terrororganisation. Wenn die bedenklichsten Grundzüge des Clinton-Plans überhaupt noch modifiziert werden, dann von den Konservativen, die sich um die Meinungsfreiheit sorgen.

Politische Interessen sind ein wesentlicher Grund für den Anti- Terrorismus-Plan, ebenso wie für viele der jüngsten Angriffe auf die freie Meinungsäußerung. Und so läßt sich auch die merkwürdige Häufung von Angriffen aus Washingtoner Regierungskreisen gegen Hollywood erklären. Bob Dole, der im Senat die Mehrheit anführt und als Spitzenkandidat für die Präsidentschaftswahlen gilt, konkurriert hier mit Präsident Clinton darum, wer von beiden wohl energischer Schallplattenproduzenten oder Filmemacher für ihre publicityträchtige Verbreitung von Gewalt und frauenfeindlichem Sex verdammen kann.

Paranoia und schrille Rhetorik

Wenn man sich den gegenwärtigen Stand der Meinungsfreiheit vergegenwärtigt, gerät man in die Gefahr, einen Klagekatalog aufzulisten und diesen allzu ernst zu nehmen. Es gibt einige echte Probleme, aber im ganzen steht es derzeit in Amerika durchaus nicht schlecht um die freie Meinungsäußerung. Vor einem Massenpublikum können hierzulande Dinge gesagt werden, die anderswo schwerlich möglich wären. So erklärte beispielsweise G. Gordon Liddy seinem Radiopublikum, wie man staatliche Agenten umbringt. Und irgendwelche paranoide Milizgruppen behaupteten, die Regierung wolle sie mit Hubschraubern angreifen – was ein konservatives Kongreßmitglied tatsächlich in einer Anfrage aufgriff.

Was zählt, sind Worte. In einem Land, dessen Politik schon immer paranoide Anteile hatte – heute noch mehr als vor Jahren –, ist es unsinnig, die schrille Rhetorik der Radiokanäle und der Politik als einflußlos abzutun. Die Frage, um die sich einige nachdenkliche AmerikanerInnen sorgen, lautet: Wie kann man eine zivilisierte Gesellschaft und eine sinnvolle politische Debatte wiederherstellen, ohne die Verpflichtung gegenüber den Anforderungen des First Amendments zu schwächen?

Der Autor ist Kolumnist der New York Times