: Das große Morchelessen in Bargfeld Von Michael Rudolf
Der Vorstand hatte gerufen, und alle waren sie zum Morchelessen nach Bargfeld in die Lüneburger Heide gekommen. Busladungen von Delegierten wurden in die umliegenden Ortschaften gelegt; das Vorbereitungskomitee hatte ganze Arbeit geleistet, und das Wetter spielte auch mit. Nur die Morchelesser Egner, Droste und Brüsewitz fehlten wieder einmal unentschuldigt.
Mit großer Spannung verfolgte man die Begrüßungsrede des Bürgermeisters, der erneut die Bedeutung des jährlichen Morchelesser-Gipfels als Wirtschaftsfaktor für die Region wortreich herausstrich. Wie üblich wurden die anwesenden Veteranen Steinmann, Riedel und Holetzeck auch wieder beim Rauchen erwischt. Es steht bloß zu hoffen, daß die Damen und Herren von der Presse keinen Wind von dieser Angelegenheit bekommen. So rechte Morcheleßstimmung wollte irgendwie nicht aufkommen. Nachteilig wirkte sich nämlich aus, daß der „Gegengipfel der Morchelesser von unten“ ausgerechnet im gleichen Saal und zur selben Zeit abgehalten werden mußte. Außerdem tagte noch die Jahreshauptversammlung der Arno-Schmidt-Stiftung, die Organisation erdölexportierender Bundesländer und, wie aus Versehen, fanden hier auch die russisch- tschetschenischen Friedensverhandlungen statt. Die gesamte Dorfjugend von Bargfeld suchte Vergessen im Familientanz.
Zu tätlichen Auseinandersetzungen kam es, als der sogenannte Morchelesser Henschel den Morchelgeschmack als solchen generell in Frage stellte und den Ablauf des regulären Gipfels mit Schnurrpfeifereien und obszönen Einstreuungen zu stören suchte. Er jedenfalls könne diese Morcheldinger nicht mehr sehen.
Glücklicherweise gab es am Nachmittag frei, und jeder konnte sich in Bargfeld umtun, den Kontakt zur Bevölkerung herstellen, Interesse für das Morchelessen wecken. So kam es um die Ortszisterne zur Fachsimpelei über die beim Morchelverzehr zu haltende Anzugsordnung, und die Morchelesser Wedel und Ulbricht gerieten sich über die vorschriftsmäßige Anwendung der niedersächsischen Atemtechnik in die Haare. Als am anderen Ende des Ortes ein völlig entspanntes Quieken zu hören war, vermutete man zunächst wieder eine der Provokationen des Exilverbandes der ehemaligen Ost-Morchelesser.
Dabei war der Morchelsachverständigenanwärter Rudolf nur auf dem Fahrrad eingeschlafen, auf ein Ferkel gefallen und machte sich nun die Bier- und Schaumweinvorräte von Bangemanns Gasthof untertan. Die Morchelesser Fischer und Müller hatten alle Hände voll zu tun. Es war die Hölle. Kommentar von Morchelgeheimrat Rauschenbach (Nebenpommern-Hohenlohe): „Das einzige, was der noch kann.“
Die Einbeziehung erfahrener Laien in das engagierte Morchelessen konnte nun wegen verletzungsbedingt zu geringer Teilnehmerzahl nicht mehr diskutiert werden. Überhaupt hatte schon mehr als die Hälfte der sauberen Damen und Herren Morchelesser die Abreise angetreten. Keine Stellungnahme zu den unsachlichen Anwürfen in der albanischen Fachpresse. Nichts. Außerdem fehlen 37 Pfennige in der Verbandskasse. Und die schönen Morcheln hat auch wieder keiner angerührt.
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