Gespensterreigen in Iowa

Ein bißchen wie Walker Evans: Clint Eastwood spielt in seinem bezaubernden Melodram „The Bridges of Madison County“ einen Fotografen an der Seite von Meryl Streep  ■ Von Serge Toubiana

Clint Eastwood ist noch lange nicht fertig damit, alle Genres des Kinos, eins nach dem anderen, zu erkunden und durchzuspielen. Der Gangsterfilm (selbstverständlich mit dem berühmten Inspektor Harry), das Kaputtnik-Roadmovie („Bronco Billy“ und „Honky Tonk Man“), der Kriegsfilm („Heartbreak Ridge“), der exotische Abenteuerfilm („White Hunter, Black Heart“), das Biopic („Bird“), der ultimative Western kurz vor dem Untergang des Genres („Pale Rider“ und „Unforgiven“), der Entführungsfilm („Perfect World“) ... und so weiter. Was blieb, war das Melodram.

Da ist er nun mit seinem letzten Film angelangt, beim Melodram auf dem Lande, eine Adaption des Bestsellers von Robert James Waller: „The Bridges of Madison County“. Er beschreibt ein kurzes Liebesabenteuer, auf einer Farm weit draußen in Iowa, zwischen einer jungen Bäuerin (eine schöne Rolle für Meryl Streep) und einem Fotografen (Clint Eastwood höchstselbst), der dabei ist, für den National Geograhic eine Reportage über die alten Brücken der Gegend zu schreiben.

Irgendwie hat man sich langsam an die Idee gewöhnt, daß Eastwood kein auteur wie die anderen ist. Es ist paradox, aber der größte amerikanische Filmemacher der Gegenwart hat es nicht nötig, sich irgendeinen aufwendigen Manierismus zuzulegen, oder gleich ein eigenes Universum und was der Erfindungen mehr sind. Statt dessen kann er einfach, ganz gelassen, irgendeinen beliebigen Stoff anfassen, ein eigener Stil setzt sich sofort durch, ganz egal, um welche Geschichte es sich handelt. Dieser Stil zeichnet sich durch große Nüchternheit und Zurückhaltung aus. Darin erweist sich Eastwood als Klassiker, dessen Inszenierungen stets auch von etwas wie Südstaaten-Ehrlichkeit und sogar einer bestimmten Form von Gerechtigkeit charakterisiert sind. Eastwood vermeidet alle New Yorker Moden, was sich speziell an seinem Umgang mit Farbe und Rhythmus zeigt. Er ist ein Regisseur, der lieber zu streng ist, als mit üppigen Effekten zu hantieren. Daß seine Geschichte, die von den Brücken in Madison County, in den sechziger Jahren spielt, sagt für ihn auch etwas über die Neunziger. „The Bridges of Madison County“ ist ohne Zweifel ein hochmoralischer Film, der sich rigoros von dem absetzt, was gemeinhin noch als erträglich gilt.

Denn dieser Film gibt einem auf sehr bewegende Art und Weise zu verstehen, daß man nicht an der Liebe vorbeigehen darf, selbst wenn man die Mutter ist in einer amerikanischen Familie, die es irgendwo weit hinaus aufs Land verschlagen hat, und daß selbst wenn die Entscheidung für die Kinder und gegen die Leidenschaft gefallen ist, daß dann immer noch ein Geschmack von Asche im Mund bleibt.

Was die Moral betrifft, ist außerdem bemerkenswert, daß es die Erwachsenen sind, Eastwood und Streep, die der jungen Generation eine Lektion in Sachen Freiheit erteilen. Eastwood erweist sich wieder einmal als weit entfernt vom Puritanismus Hollywoods. In „Bridges of Madison County“ versucht er eine Versöhnung mit den Ausgeschiedenen, als sei das Kino die beste Chance, die Toten wieder zu wecken. Ein alter Notar liest den Kindern der Familie Johnson zu Anfang des Films das Testament ihrer Mutter vor, das in die Erzählung einführt. Und es ist gerade dieses Gespensterhafte aller Personen (vor allem von Eastwood selbst, der aus dem Nichts zu kommen scheint, in das er später auch wieder verschwindet), das ihnen Respekt und Aufmerksamkeit sichert. Eastwoods Protagonist entsteigt dem Auto, das er vor der Farm geparkt hat, wie ein Verkündiger; er ist derjenige, mit dem die Geschichte beginnt, er wird derjenige sein, der sie beendet. Dazwischen vergeht eine Zeit, die dem Mord und dem Vergessen bloß abgetrotzt ist. Eastwood filmt die handelnden Personen und die Landschaft, die Gefühle und die Ereignisse, mit großer Präzision, ein melancholischer Versuch, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Die Zeit, die da vergeht, sieht man auf den Gesichtern an ein paar Falten mehr und an dem schweren und sehr sinnlichen Körper von Meryl Streep. Die Liebesszenen zwischen Eastwood und Streep, nach langem Zögern und vorsichtiger Annäherung, sind delikat, aber heftig. Diese Szenen sollten denen zu denken geben, die nicht müde werden, Eastwood als ollen Grobian, Macho und sogar Fascho zu bezeichnen.

Der Film beginnt in dem Moment, als Michael Johnson und seine Schwester Caroline gerade dabei sind, den Brief ihrer verstorbenen Mutter zu öffnen. Der Koffer, den sie zuvor aufschließen müssen, ist voller Reliquien und seltsamer Dinge, beispielsweise einem Fotoapparat (obwohl Mutter niemals Fotos machte), und vor allem einem Tagebuch. Indem sie es lesen, stoßen die Kinder auf einen ganzen Abschnitt in der Vergangenheit ihrer Mutter, auf ein Abenteuer mit dem fahrenden Fotografen Robert Kincaid. Der Sohn reagiert erzürnt auf die Erkenntnis, daß seine Mutter einen Unbekannten liebte und diese Liebe nicht nur in der Erinnerung, sondern in einem regelrechten Kult pflegte bis ans Ende ihrer Tage. Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie sich einäschern ließ und dafür sorgte, daß ihre Asche von der Roseman-Brücke gestreut werde, statt sich neben ihrem verstorbenen Ehemann begraben zu lassen.

Der Film dauert so lange, wie es dauert, ein solches Tagebuch zu lesen: eine ganze Nacht. Im Morgengrauen sind Michael und Caroline mit ihrer Mutter ausgesöhnt. Und wir hatten derweil Zeit, die schöne Geschichte der Liebe zwischen Francesca Johnson und Robert Kincaid zu entdecken.

Der Erfolg des Films speist sich aus dem, was Clint Eastwood aus dieser unmöglichen, zufälligen Geschichte gemacht hat, die nicht länger als ein paar Tage dauerte, und die sich in einem Teil Amerikas ereignete, den es heute nicht mehr gibt. Wie jedes Melodram zieht auch dieser Film seine ganze Kraft aus dieser Vorstellung.

Francesca Johnson, eine Frau italienischer Herkunft, bildet eine Art Gravitationszentrum des Films. Sie lebt da so vor sich hin und muß sich eines Tages darüber klarwerden, daß ihre Jugendträume langsam, aber sicher nicht mehr zu verwirklichen sind. Einige Tage lang ist sie allein zu Haus, ihre Kinder und ihr Mann sind für einige Tage verreist. Der Mann, der Fotograf, ist auch allein. Das ist so seine Art. Robert Kincaid fragt Francesca nach dem Weg zur alten Roseman-Brücke. Sie entschließt sich, ihn zu begleiten. Während er Fotos von der Brücke macht, kann sie ihn in Ruhe beobachten. Im Gegenzug lädt sie ihn für den Abend zum Essen ein. Francescas Küche wird zur Bühne eines bezaubernden Gesprächs, indem sich das Innenleben zweier Menschen enthüllt. Robert Kincaids Leben besteht darin, herumzuziehen und zu fotografieren, niemals bleibt er. Eastwood hat eine Figur der dreißiger Jahre entworfen, jemanden wie Walker Evans, der verliebt ist in die leeren Landschaften des mittleren Westens. Als Francesca ihn fragt, warum er seine Fotos nie in einem Buch veröffentlicht, gesteht er ihr, daß er keiner der staatlichen Anforderungen an professionelle Fotografen, an Künstler genügt. Hat Eastwood da über sich selbst gesprochen?

Man ahnt, wie es weitergeht. Liebe, das Zählen der Minuten vor der Rückkehr der Johnsons, Francescas Dilemma ... Wunderbar ist die Schlußszene, die beiden Autos im sintflutartigen Regen, Kincaid, der auf grünes Licht wartet, und der Wagen der Johnsons, Francescas Hand auf dem Hoftor ... Aaah, wie das Melodram die Zeit anhalten kann! Robert Kincaid verschwindet im Regen wie ein Phantom, das möglicherweise nie existiert hat.Aus dem Französischen

von Mariam Niroumand

„The Bridges of Madison County“, Regie: Clint Eastwood, Kamera: Jack N. Green, mit: Meryl Streep, Clint Eastwood u.a., USA 1995. 135 Minuten.