: Die Geschichte des Andre W.
■ Ein junger Mann behauptet, im Hause eines CDU-Politikers vergewaltigt worden zu sein. Die Polizei soll ihn ausgelacht haben.
Immer wieder wandert André W.'s Blick zu dem Focus-Artikel auf dem Tisch. „Stricher“, zischt er und schüttelt den Kopf. Sein Freund Marcel (Name von der Redaktion geändert) legt ihm die Hand auf den Unterarm. Das tut er oft während des dreieinhalbstündigen Gespräches – wenn André W. stockt oder wenn seine Stimme bricht. Er sei im November des vergangenen Jahres vergewaltigt worden, erzählt André W. Als Tatort hat er das Haus von Helmut Pflugradt identifiziert. Gegen den stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden wird jetzt wegen sexueller Nötigung ermittelt.
„Diese Geschichte“, sagt Marcel und deutet auf den Zeitschriften-Artikel, „ist für uns alle zu einer Zerreißprobe geworden“. Vor einigen Monaten ist André zu Marcel gezogen. Seitdem lebt das Paar zusammen mit Marcels Eltern und dem Bruder unter einem Dach. Das schmucke Haus steht in einem Wohngebiet, das mit Blumenkübeln verkehrsberuhigt worden ist. In den Vorgärten sprießen Stiefmütterchen. „Uns hat noch keiner schief angeguckt“, lobt Marcel seine Nachbarn. Aber jetzt... „Da steht mein voller Name. Die schreiben, daß ich ein Stricher bin. Das stimmt nicht. Ich arbeite als Kellner. Privat-Party am Pool habe ich nie gesagt.“ André W.'s Unterlippe zittert. „Da stimmt nur der Name des Zuges – Regensburger Domspatzen.“
Am 29. November 1994 steigt André W. um 13.51 Uhr in Frankfurt in diesen Zug, Fahrtrichtung Dortmund. „Ich bin von Kollege gekommen“, erzählt André in gebrochenem Deutsch. Der gebürtige Belgier hat einen starken Akzent. Er sucht oft nach Worten. „Wie heißt das noch“, fragt er immer wieder.
Im Speisewagen lernt André W. den Mann kennen, von dem er später behauptet, er habe ihn vergewaltigt. „In Bonn ist er zugestiegen. Es gab ein Gespräch, und dann kam Piccolo. Und der zweite Piccolo, und das ging so weiter“, erzählt André. „Kurz bevor wir in Dortmund angekommen sind, bin ich auf die Toilette. Als ich vom Klo wiederkam, hab' ich meine Jacke angezogen. Ich wollte das Glas Piccolo aber nicht stehenlassen und hab' es auf ex runtergeschüttet. Da wurd' mir dösselig vor Augen. Ich habe mich hingesetzt. In Bremen bin ich wieder aufgewacht.“ – „Der hat Dir bestimmt was ins Glas geschüttet“, wirft Marcel ein.
In Bremen steigt André W. in den schwarzen BMW des Mannes. „In meinem besoffenen Kopp hab' ich gedacht, der fährt mich zurück.“ Doch der Mann bringt André W. irgendwohin in Bremen in ein Haus, fährt in die Garage, von der aus eine direkte Tür in die Wohnung führt. „Im Wohnzimmer saßen zwei Männer – so Mitte zwanzig“, schätzt André. „Wir haben getrunken. Wenn eine Flasche Sekt leer war, stand schon die nächste auf dem Tisch.“ In dem Zimmer war ein brauner Boxer, offenbar der des Täters: „Der hat gut auf den Mann gehört. Immer wenn er gesagt hat, Platz, hat sich der Hund hingesetzt.“
Irgendwann ist André mit dem Mann aus dem Zug im Nebenraum in den Swimming-Pool. gesprungen. „Unter Wasser hat er angefangen, mich zu betätscheln. Ich habe ihn weggeschubst, bin raus, hab' mir Handtuch und Bademantel umgehängt. Ich saß auf so einem Heimtrainer für Bauchmuskeln. Der Mann hat mich runter auf die Fliesen geschmissen. Ich hab' versucht, mich zu wehren. Ja, und dann... Hat er's halt... gemacht.“ Andre' schluckt, seine Stimme bricht. „Ich bin aufgestanden und aufs Klo. Hab' so doll wie möglich gepreßt. Daß alles rauskommt. Dann unter die Dusche. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, waren die Männer weg. Ich hab' meine Schwester in Lüdenscheidt angerufen. Die hat gesagt, sieh zu, daß Du da rauskommst. Aber im Wohnzimmer waren alle Jalousinen runter. Die Türen waren zu. Meine Schwester hat gesagt, sie ruft die Polizei in Bremen an. Der Mann hat mir ein Fünf-Mark-Stück in die Hand gedrückt. Er hat irgendwas von 10.000 Mark gefaselt. Er hat gesagt, daß ich für ihn arbeiten könnte. Ich hab' nur gedacht, das hat was zu tun mit Körper verkaufen und bin raus.“
André W. irrte in dieser Nacht durch Vegesack. Als er endlich eine Telefonzelle findet, ruft er die Polizei an. „Ich hab' gefragt, ob meine Schwester schon angerufen hätte. Aber die wußten von von nix und haben gesagt, sie könnten mir nicht helfen.“ André irrt weiter durch Vegesack. Ein weißer Opel liest ihn auf und fährt ihn zu einer Tankstelle. Von dort aus ruft er nochmal die Polizei an. Ein paar Minuten später fährt der Streifenwagen vor. „Ich mußte die Jacke ausziehen. Die haben mich von oben bis unten gefilzt.“ André W. wird aufs Revier gebracht, erstattet Anzeige und gibt eine Täterbeschreibung ab. 1,90 Meter groß sei der Mann gewesen, steht im Protokoll. „Ich habe gesagt, der Mann war größer als ich“, erinnert sich André W. Er selbst ist groß, schmal und feingliedrig. „Die Polizisten haben gefragt: Wie groß war der denn, schätz' mal – 1,90 Meter? Da hab' ich gesagt, ja, 1,90. Aber ich kann den Unterschied zwischen 1,80 und 1,90 nicht unterscheiden. Ich hab' einfach geschätzt. Ich war ja auch hektisch – oder wie heißt das“, fragt er und blickt Marcel an. „Du meinst aufgeregt“, berichtigt ihn sein Freund. André nickt. Seine Zigarette ist bis auf den Filter runtergebrannt. „André, Deine Zigarette“, mahnt Marcel.
Doch André scheint ihn nicht zu hören. „Und dicker war der Mann. Er war schwarzhaarig, trug eine Brille. Er hatte eine kleine Warze auf der Wange. Am kleinen Finger hatte er einen Ring und am Mittelfinger auch. Eine Rolex hatte er um“, sprudelt André W. hervor. „Er sieht fast so aus wie der da“, sagt André und deutet auf das Foto in Focus. „Er hatte nur mehr Haare auf der Stirn und ein dickeres Gesicht.“ Aber hat er bei der Polizei nicht angegeben, der Mann hätte krauses Haar...? „Ja“, sagt André und deutet auf das Foto, „hat er doch auch“. Doch der Mann auf dem Foto, auf den André zeigt, hat gar kein krauses Haar, sondern höchstens eine Welle. War bei der Vernehmung eigentlich ein Dolmetscher dabei? André W. schüttelt den Kopf. Kein Dolmetscher.
„Irgendwann sind wir mit dem Streifenwagen losgefahren. Die Wege habe ich erkannt. Nur das Haus konnte ich an dem Abend nicht finden. Wir sind zurück aufs Revier. Danach sind wir ins Krankenhaus. Dort haben sie Anal-Proben genommen. Aber der Arzt wußte nicht recht, wie man das untersucht. Als wir wieder auf dem Revier waren, haben die Polizisten mich in so eine kleine Kammer mit einem Tisch und einem Stuhl gesetzt. Dann kamen die ganzen Sprüche. Schwulenpower haben die gesagt und mich ausgelacht. Bis morgens hab' ich da gesessen. Gegen neun Uhr kam ein Beamter und hat mich noch mal verhört. Ob ich das nicht freiwillig gemacht hätte, wollte er wissen. Ob ich sicher wäre, daß ich das jetzt nicht wegen des Geldes machen würde. Ich bin ausgetickt. Ich wollte nur noch raus. Aber der Polizist hat gesagt, ich solle mal ganz ruhig bleiben. Er müßte so ermitteln.“ Irgendwann nachmittags wird André von seinem damaligen Freund abgeholt.
Er fährt mit ihm nach Dortmund in die gemeinsame Wohnung. Kurz nach Weihnachten zieht André W. aus. „Ich konnte nicht mehr mit meinem Freund schlafen. Er hatte kein Verständnis.“ André W. zieht nach Hamm. „Da ging es los. Alpträume. Schweißausbrüche. Ich hab' Tabletten geschluckt. Ich bin in die Klinik. Dort habe ich einen Einwegrasierer auseinander gebaut und versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden.“ Am Handgelenk ist eine feuerrote Narbe zu sehen. 13 Wochen verbringt André W. in der Psychiatrischen Klinik in Münster. Dann wird er entlassen. Seine Schwester rät ihm, sich in Bremen bei der Staatsanwaltschaft zu melden. André W. will nicht. „Mir hat das gelangt, was ich auf der Polizei-Wache in Vegesack erlebt habe.“
Im Mai lernt er Marcel kennen. „Manchmal hat André solche Schweißausbrüche, daß das ganze Bett naß ist und ich aufwache. Wir haben lange diskutiert, ob er nach Bremen fahren soll. Aber vielleicht kann er dann besser damit leben.“ Im Juli fahren André und Marcel nach Bremen. André macht seine Aussage vor der Staatsanwaltschaft. Danach soll er in Vegesack versuchen, das Haus wiederzufinden. In Vegesack habe sie der gleiche Polizist begrüßt, der André seinerzeit verhört habe. „Der hat uns behandelt wie den letzten Abschaum“, sagt Marcel. Der hat gesagt: „Ach, André, 13 Wochen warst Du in einer psychiatrischen Anstalt? Da hättest Du doch genauso gut einen Bruch machen können. Dann wärst Du auch so lange weggewesen. Das lohnt sich doch gar nicht, mit Dir in Vegesack rumzufahren. Du hast doch bestimmt schon Schweigegeld gekriegt.“
André W. nimmt sich nach diesen Erfahrungen mit der Polizei eine Anwältin. „Nie hätte ich gedacht, daß ich als Opfer einen Anwalt brauche“, sagt er resigniert. Die Polizei will sich gegenüber der taz zu Andrés Vorwürfen nicht äußern. „André W. könne ja eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen“, schlägt die Pressestelle vor. „Dann würden wir der Sache nachgehen.“.
Als André W. Pflugradts Haus als Tatort identifiziert hatte, war dies der Punkt, an dem die Vorwürfe, die vorher in Journalistenkreisen als Gerücht kursierten, im Weser-Kurier veröffentlicht werden. Der CDU-nahe Weser-Report beschreibt André W. am 23. Juli als „psychisch angeknacksten, arbeitslosen, umherreisenden Homosexuellen“ und als „geprellten Strichjungen“. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Georg von Bock und Polach sagt gegenüber der taz: „Ich glaube nicht, daß der wegen dieser Sache in psychiatrischer Behandlung war.“ André W. empört: „Der kennt micht doch gar nicht.“ Seit dem 25. Januar liegt die Akte auf von Bocks Schreibtisch. Der Staatsanwalt versuchte nie, André W. in der Klinik zu erreichen oder mit den Ärzten die Vernehmungsfähigkeit zu klären. Obwohl die Kripo Pflugradts Haus von Anfang als Tatort im Verdacht hatte, beantragte er keinen Durchsuchungsbefehl. André W.'s Angaben seien ihm zu vage, sagt von Bock. Außerdem fürchte er, wegen der Bürgerschaftswahl im Mai als „wildgewordener Staatsanwalt beschimpft“ zu werden, der „versucht hätte, die Wahl zu beeinflussen“. Was die Täterbeschreibung angeht, reichte ihm allerdings die Aussage Andre W.'s. Er schrieb im Februar einen Vermerk in die Akte: Helmut Pflugradt kommt als Täter nicht in Frage. Aber auch als Zeuge wird er nicht vernommen. Monate vergehen. Erst nachdem von Bock als Staatsrat ins Innenressort gewechselt ist, kommen die Ermittlungen neu in Gang.
Seit September wird gegen den CDU-Politiker Pflugradt ermittelt.
Kerstin Schneider
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