: „Den 3. Oktober kannste vergessen“
Die deutsch-deutsche Vereinigung in einem Berliner Obdachlosenheim: Die Obdachlosen haben sich vom Fall der Mauer wieder Arbeit und Wohnung sowie ein besseres Leben versprochen. Jetzt saufen sie weiter und träumen... ■ Von Frank Rothe
Olaf und Günter, ein Ossi und ein Wessi – beide wohnen im Apartmentwohnheim Luisenstadt: so heißt das Obdachlosenquartier in der Köpenicker Straße, im Bezirk Mitte. Olaf, 31 Jahre alt, teilt Doppelstockbett und Zimmer mit einem der 120 anderen Mitbewohner. Günter, 38 Jahre alt, flog erst vor kurzem wegen Streitereien aus seinem Dreierzimmer. Er soll eine Schachtel Zigaretten geklaut haben. Jetzt lebt er im Viererzimmer gegenüber. „Auf diesem Flur sind die ganz harten Fälle, die fangen schon gleich am frühen Morgen an mit Saufen.“
Die Meinung des Wachschutzmannes bestätigt sich auf den ersten Blick. Olaf, der mal eben nebenan zu Besuch bei Fritze ist, stellt gerade eine halbe Flasche Ouzo auf den Tisch. „Den 3. Oktober kannste vergessen“, erzählt er und gießt sich den Schnaps hinter die Binde. „Da hat zwar meine Schwester Geburtstag, aber der Rest interessiert mich 'n Dreck.“ Olaf hatte vor fünf Jahren noch eine eigene Wohnung im Friedrichshain. Die Miete kostete ihn schlappe 35 Mark. Zwei Jahre später waren es dann schon 385. Das war ihm entschieden zuviel. Aus Protest zahlte er nicht mehr. Nach dem Rausschmiß ging es klassisch bergab, er verlor seinen Job als Bautischler, und bald gab es auch kein Arbeitslosengeld mehr. Jetzt sitzt er im Teufelskreis fest und spült seinen Kummer mit Hochprozentigem runter.
Günter, obdachloser Wessi aus Schwaben, lebt seit etwa einem halben Jahr im Apartmentheim. Bevor er hierher kam, hatte er schon sechs Jahre Platte hinter sich. Eine abgeschlossene Ausbildung hat er nicht. Ganz früher habe er acht Jahre lang für die SPD gearbeitet, erzählt er nicht ohne Stolz. Doch „früher“ – das ist schon eine gute Weile her. Da hatte er auch noch eine Verlobte und zwei Kinder.
Als Ost und West vor fünf Jahren zum neuen Deutschland zusammengeschweißt wurden, glaubte Günter noch an einen Aufschwung. „Damals dachte ich, daß es keine Arbeitslosen mehr geben wird. Es war ja genug Arbeit da.“ Doch daraus wurde nichts. „Im Westen haben nur die Großkapitalisten gut verdient. Es ist ein großer politischer und finanzieller Betrug gemacht worden.“ Vor allem die normalen Ossis seien beschissen worden, meint er.
1991 ging Günter das letzte Mal wählen. Seitdem weiß er nicht mehr so richtig, was er wählen soll. „Die SPD ist nicht mehr die Partei, die sie mal war. Früher, zu den Zeiten von Schmidt und Brandt, war das noch anders.“
Olaf hält auch nicht mehr viel von der Politik. Zu dem von der ARD ausgestrahlten Herzog-Gespräch mit Jugendlichen aus Ost und West meint er, daß er mit Herzog nicht über den Osten gequatscht hätte. „Da wäre ich lieber ein Bier trinken gegangen. Mit Weizsäcker hätte ich das noch gemacht.“ Seine Meinung zu Kohl beschränkt sich auf wenige Worte: „Du bist Kohl, du bleibst Kohl.“ Wählen geht er auch nicht mehr. „Die bescheißen dich doch alle! Und wenn, dann gibt es nur noch die PDS. Die würden Arbeitsplätze und Wohnungen besorgen. So wie es in der DDR war.“
Was die Zukunft der nächsten fünf Jahre anbelangt, erhofft sich Olaf seine eigene Wende. Er will einen Job und eine Wohnung finden. Den WBS hat er schon. „Einfach ein besseres Leben führen und nicht mit mehreren Leuten auf einem Zimmer wohnen.“
Der Wunsch nach Arbeit und Wohnung bildet den Tenor im Wohnheim. Egal ob das Fritze ist, der seine Obdachlosigkeit als Schicksal betrachtet, oder der 61jährige Gerhard, der von einem Hannoveraner um knappe 30.000 Mark geprellt wurde. Sie alle wollen zurück in die normale Welt.
Das kommt auch daher, daß der Ton in Luisenstadt rauh ist. Unter den Heimbewohnern gibt es wenig Vertrauen. Der Grund dafür sind die immer wiederkehrenden Diebstähle. Oft sind es nur Kleinigkeiten wie Zigaretten und Alkohol und manchmal auch etwas Wurst und Käse. Wird der Dieb auf frischer Tat ertappt, kommt es fast immer zu kleinen Schlägereien. Daß es aber schon einmal zu Streitereien aufgrund der Ost-/Westzugehörigkeit gegeben haben soll, ist bis dato niemandem bekannt.
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