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Früher, das ist lange her

Heute spielt der traditionsreiche Amateurligist Rot-Weiß Essen im DFB-Pokal gegen Leverkusen und träumt zaghaft vom Finale in Berlin  ■ Von Thomas Lötz

Das Ruhrgebiet wird von etlichen Autobahnen durchzogen, und seine Prachtstraße ist der Ruhrschnellweg, in Fußballkreisen besser als B 1 bekannt. Dessen Wegesrand säumen die Kathedralen des Kohlenpotts, seine Fußballstadien. In ihnen spielen Borussia Dortmund, Schalke 04, der VfL Bochum, und selbst Wattenscheid 09 kann man noch dazuzählen.

Weiter im Westen aber durchzieht eine ganz andere Straße das Revier. Und wenn man ihr einen Namen geben müßte, dann sicherlich einen wie „Die Straße der verlorenen Kinder“. Denn an der BAB 42 sind zwei der Clubs beheimatet, die im Rausch der großen Ruhrgebiets-Fußball-Gala der jüngeren Vergangenheit untergegangen sind. Der Weg führt vorbei am Niederrhein-Stadion von Rot- Weiß Oberhausen, das wacker den Widrigkeiten des Amateur-Fußballs trotzt. Und ein paar Kilometer weiter versucht sich das Essener Georg-Melches-Stadion in der gleichen Spielklasse. Genauer natürlich die 1. Herren-Mannschaft von Rot-Weiß Essen.

Der RWE spielt heute in der Regionalliga West/Südwest. Bei ihren Heimspielen haben die Borbeker einen bemerkenswerten Schnitt von acht- bis neuntausend Zuschauerinnen und Zuschauern, liegen derzeit auf dem zweiten Platz, der in diesem Jahr zum direkten Aufstieg in die zweite Liga und damit den bezahlten Fußball reichen würde. Dorthin, wo der Verein nach Meinung seiner Fans auch gehört. Damals, 1953, da war Essen Deutscher Pokalsieger, zwei Jahre später Deutscher Meister, und damit Deutschlands erster Vertreter im Europapokal der Landesmeister 1955/56. Im Achtelfinale gegen Hibernian Edinburgh war allerdings bereits Endstation. In der Klubgaststätte unter der Haupttribüne werden heute noch stolz alte Wimpel hinter Glas präsentiert: Lens, Stade Rennes, FC Amsterdam und Xamax NeuchÛtel. Gegner vergangener Dekaden. Aber an den Wänden hängen auch zwei Fotos vom letzten großen Auftritt des Vereins im Pokalfinale 1994, als man Werder Bremen mit 1 : 3 unterlag.

An einem Tisch im hinteren Raum des Lokals sitzt die Pächterin. Frau Plutzers verkauft Eintrittskarten für das DFB-Pokalheimspiel am heutigen Mittwoch gegen den Bundesligisten Bayer Leverkusen: „20.000 Karten sind bestimmt schon wech für Leverkusen.“ Und das, obwohl der Verein seine Fans mächtig rannimmt. Der Stehplatz kostet 22 statt 15 Mark, und die Preise für Sitzplätze sind auch um einen satten Zehner gestiegen. Trotzdem kommen immer wieder Leute, die Karten verlangen, und zwischendrin fragt Töchterchen: „Mutti, wat kostet der Kuchen?“ – „Zweifuffzich“, antwortet Frau Plutzers knapp und gibt Wechselgeld raus.

Draußen trainiert die 1. Mannschaft. Etwa 40 Leute zwischen acht und 80 haben sich zum Kiebitzen eingefunden. „Das ist aber voll heute hier“, meint ein Mann in den Fünfzigern. Rechts am Zaun streitet sich eine Handvoll alter Männer um die tatsächliche Zahl verkaufter Dauerkarten: „Ach Quatsch, da waren doch noch jede Menge da. Hab' ich doch selber gesehen!“

Ich gehe auf die Männer zu und erkläre ihnen, ich sei Zeitungsreporter. Die anfängliche Skepsis ist schnell verflogen. Und plötzlich bin ich von acht munter quasselnden Männern umgeben. „Nur auf die Käthe müssen wir aufpassen. Den darfse nicht freistehen lassen, sonst trifft der.“ – „Wir putzen die 3 : 1. Und wir fahr'n auch wieder nach Berlin!“, diktiert ein anderer in den Schreibblock. „Sie können ruhig schreiben, wenn Rot-Weiß verliert, darf mich meine Frau nicht ansprechen, dann kriecht se wat auffe...“ – „Mensch, dat darfse doch nich sagen, dat kommt doch ins Färnsähn.“ – „Ich stell' immer die Stühle für die Trainer auf. Die packt mir keiner an. Da bin ich abergläubisch. Wenn die einer aufstellt, stell' ich die wieder zurück.“ Als ich die Leute auf „früher“ anspreche, packt mich einer vertraulich am Ärmel: „Da frachse am besten mal den da drüben, dat ist Heinz Wewers, der hat hier lange gespielt, und der war auch inne Nationalmannschaft.“

Heinz Wewers ist 68 Jahre alt, Rentner, und kommt heute noch ein- bis zweimal die Woche mit dem Fahrrad zum Training: „Ich bin mit Fußball aufgewachsen. Das läßt einen dann auch nicht mehr los.“ Von 1949 bis 1962 hat er in der Abwehr für den RWE gespielt und 12 Länderspiele absolviert. Ob ihm das denn nicht wehtue, wenn er sähe, wo Schalke und der BVB heute stehen, mit denen Essen in den Fünfzigern und Mitte der Siebziger locker mithalten konnte. „Ach, wehtun...“ Es ist wohl einfach schon zu lange her. Da redet Wewers deutlich lieber über die jetzige Mannschaft, die tollen Stürmer Wolfram Klein und Markus Wuckel, über das Problem der dünnen Spielerdecke und über die Routiniers Ingo Pickenäcker und Christian Schreier.

Letzterer freut sich unheimlich auf das Spiel gegen seinen alten Klub. Sieben Jahre lang hat er das Trikot mit dem Emblem der Chemiefirma getragen. Rachegelüste? „Zeigen brauch' ich keinem mehr was. Ich freu' mich persönlich für das Publikum hier in Essen. Die haben so ein Spiel einfach verdient.“ Aber Schreier denkt wie so viele andere in Essen auch gar nicht so sehr an das Pokalspiel: „Am Sonntag drauf haben wir das große Spiel um Platz eins, denn der Tabellenführer kommt zu uns. Was haben wir davon, wenn wir Leverkusen schlagen, und gegen Gütersloh kriegen wir dann einen auf'n Arsch?“

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