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Dauermasturbanten und Tempelstürmer

Werner Schwabs „Antiklimax“ und Christoph Schlingensiefs „Hurra Jesus! Ein Hochkampf“  ■ Von Roland Koberg

Präsidentinnen, sagt Werner Schwab, „das sind Leute, die glauben, alles zu wissen, über alle zu bestimmen. Eine Form von Größenwahn.“ Ein andermal meinte der 1994 in seiner Heimatstadt Graz 35jährig verstorbene Dichter: „Ich stamme aus einer Präsidentinnenfamilie.“ Sechs Jahre ist es her, da „Die Präsidentinnen“ als erste der ungezählten Schwabschen Bühnenexistenzen die Bühne betraten – von der Öffentlichkeit etwa so unbemerkt wie ihre wirklichen Vorbilder vom wirklichen Leben, von einer Wirklichkeit, die bei Schwab von den Menschen träumt, aber nicht von ihnen erträumt wird.

Die drei von der Zinshauswohnung haben es überlebt. Auf der Bühne sowieso, da sind sie eines der erfolgreichsten Gespanne neuerer Theaterliteratur. Im Leben auch, wie die eben erschienene Schwab-Biographie von Helmut Schödel zeigt. Und sie leben fort als Menschenstoff für neue Stücke. Das eine, „Antiklimax“, ist von Schwab selbst und derzeit am Wiener Schauspielhaus zu sehen; das zweite, „Hurra Jesus! Ein Hochkampf“, ist von Christoph Schlingensief und ein Auftragswerk für den steirischen Herbst – Premiere war am Samstag.

Mariedl, die zentrale Figur aus Schwabs „Die Präsidentinnen“, ist in „Antiklimax“, seinem letzten Stück, ein junges Mädchen. Ihre familiäre Aufgabe ist es, staubzusaugen einerseits, dem Vater sexuell zur Verfügung zu stehen andererseits. (Als Präsidentin war sie/wird sie sein: angejahrt, eine Kloputzerin aus Passion. Magd ihrer Zimmergenossinen.) In „Antiklimax“ steht ihr schon das ganze Leben nicht mehr offen. Und würde die Sprache sich nicht mit aller Gewalt einer Genreeinengung zum „Neuen Volksstück“ widersetzen, man wollte in der Dramenstruktur frappierende Parallelen zu Turrinis „Sauschlachten“ erkennen.

Die Bühne im Schauspielhaus ist mit einer Furnierholzmusterung aus Kunststoff beschichtet. Sie gleicht einem Lautsprecher, an dessen Hinterwand Mariedl sich den Kopf blutig schlägt, aus dem heraus die Mariedl-Sätze zu verhallenden Rufen werden – so behutsam sie Sona MacDonald auch artikuliert. Aus dem schrägen Trapezboden, glatt und rutschig, taucht, Klapptüre für Klapptüre, der Familienrest auf – engstirnige Gestalten, deren Sätze wie in einer Typenkomödie um fixe Ideen kreisen: Der Bruder onaniert ausdauernd über Sexheften, Vater geriert sich als Volksrepräsentant („Ein Volk wixt nicht, es befruchtet“), und Mutter sorgt als Lach- und Putzkanone für gute Laune. Mariedl ist das schwächste Glied in dieser „Nahrungskette“, mit gleichgültiger Neugier sehen die anderen dem Kindesmißbrauch zu. Als „die Menschen“ – Polizist, Arzt, Pfarrer – in die Wohnung eindringen, wird Mariedl zur Schuldigen erklärt. Eine Opfer- Täter-Umkehrung. Dem Schicksal vieler Schwab-HeroInnen, am Ende gelyncht zu werden aber entgeht sie, indem sie selbst mordet. Mariedl hat sich – endlich – „verabredet mit sich“.

Die Inszenierung Hans Gratzers, der Schwab vor fünf Jahren am Schauspielhaus vorentdeckt hat, seitdem jedoch keines seiner Stücke mehr anrührte, hat einen kalten, abstrakten Rahmen, aber einen konkreten, psychologischen Kern. Sie macht in Kunst, hält Distanz, es mangelt ihr etwas an Selbstverständlichkeit, die die grausige Komik der Schwab-Sätze nötig hätte, aber sie beschreibt die Situation doch treffend: Den verwahrlosten Eltern stehen saubere, friedliche Kinder gegenüber, deren Widerstandskraft noch unentwickelt oder schon gebrochen ist. Festgemacht wird der Generationsschmerz im Sexuellen: Der einsame Dauermasturbant, die isolierte Immergeschändete. Die unbekümmerte Fröhlichkeit von Klaus Rodewald, die sanfte Gelassenheit der McDonald (eine Lichtgestalt mit warmer, einfacher Sprachführung) konterkarieren das Dumpfe, Ordinäre, Abstoßende der Elterndarsteller Rainer Frieb und Silvia Fenz. So wird auf theatralische Weise deutlich und berührend, was Schwab sprachlich konstruiert: Seine Figuren denken nicht, träumen nicht, hassen nicht – sie werden gedacht, geträumt, gehaßt. Die Wirklichkeit ist stärker als sie. Ihr Neben-der-Sprache-stehen heißt bei Schwab immer auch: Ausgeschlossenheit.

Und was wurde aus Pelzmützen-Erna und sexy Grete, den beiden anderen Präsidentinnen? Wenn man will – und freilich nur dann –, kann man sie in Schlingensiefs „Hochkampf“-Getümmel entdecken, eine spaßlastige Abarbeitung am Katholizismus und – dank freundlicher Mitarbeit der ortsansässigen Schauspieler vielleicht – am Graz des Werner Schwab. Grete, die hier Frau Komolka heißt (Anna Maria Gruber), trägt einen schwarzen Minirock und graue, lange Haare – mit Sprite-Dose in der hochgestreckten Hand erstarrt sie für Minuten zu einer Paraphrase der Freiheitsstatue, vollzieht bei der Meßfeier die „Lesung aus dem letzten Brief ... von meiner Tante“ – eine Größenwahnsinnige auch diese abgewrackte Maria Magdalena.

Erna wiederum, die man in Frau Fink wiedererkennen mag (Ute Radkohl, mit Pelzmütze), ist Alleinerzieherin einer Tochter, die einem jüdischen Serienmörder zum Opfer fällt (Mama jubelt: „Mein Kind wird leiden wie Herr Jesu Christ!“), sowie Alleinbewohnerin einer Art Weihnachtskrippe, die im Verlauf der Ereignisse als Wohnung in einer Arbeitersiedlung am Stadtrand von Graz ausgewiesen wird. Frau Finks Krippenbehausung ist auf der städtischen Bühne integraler Bestandteil eines Kirchenschiffs mit allem Drum und Dran: links ein Kreuz, rechts eine Kanzel, über die Breite flache Stufen, im Zentrum ein veränderlicher Altar, aus dessen Keller allmählich ein Käfig samt Riesenungeziefer hochfährt.

Es ist kein besonders einschüchterndes Kircheninneres, eher eines, das als Spielfeld für eine progressiv-katholische Liturgie alle Möglichkeiten offeriert: daß ständig ein in bunte Pullis gewandeter Kinderchor auf- und abstürmt; oder daß der Blick des Zuschauers von einer Episode zur anderen wandern kann, die, wenn nicht gleichzeitig, so doch ineinander verschränkt (sich) verlaufen. Progressiv-katholisch, das ist Schlingensiefs Arbeit wirklich – aber noch viel progressiver und viel katholischer als die fortschrittlichen Gläubigen sich je erträumt haben.

Schlingensief, der mit sympathischem Charme als „Exorzist“ des Hochkampfs auftritt (und in Wirklichkeit als verkappter Hohepriester ein Hochamt zelebriert), spielt lange mit den Erwartungshaltungen, die ihm offenbar bis ins südlichste Österreich nachgefolgt sind. „Habt Ihr doch so gewollt! Es kommt noch viel schlimmer“, beeilt er sich mitzuteilen, als er – apropos Massaker – mit Kettensäge die bis dahin friedliche Liturgie, der es bloß an mitmachendem Kirchenvolk fehlt, erstmals stört. Mit derlei Autoreferenzen verfolgt er eine Immunisierungsstrategie, die all das, was nach der Premiere trotzdem gesagt wurde, vorwegnimmt: wiederauferstandene sechziger Jahre, Regiediktatur, und: Das soll ein Skandal sein?

Natürlich war es keiner. Aber als ultra-religiöser Tempelstürmer und als Volksbühnen-Missionar hat Schlingensief seine Sache gut gemacht. Stilsicher und souverän wühlt er im Zitatekasten, wirft Personen und Erzählung durcheinander wie Lottokugeln, organisiert ein Chaos, das nur auf den formalen Blick nach einem solchen aussieht. Dramaturgisch hat das längst eine Souveränität, wie wir sie am wilden Jan Fabre oder am zarten Jan Lauwers, am wüsten Frank Castorf oder am sanften Christoph Marthaler schätzen: episches Theater, das den Zuschauer will und sich dennoch dessen Unerreichbarkeit bewußt scheint.

Schlingensiefs Evangelium jubelt sich selber zu, ruft vorlaut zum Bischofslynchen auf und weiß doch, daß seine Zuhörer die eines renommierten „Avantgarde“-Festivals sind. Der Autor, Regisseur und Moderator von „Hurra Jesus!“ ist, wenn nicht Jesus selbst, so doch einer, der mit Gott aufs Ganze geht: „Der Papst oder ich!“ herrscht er Gott im Programmheft an. „Na los, wer ist dir wichtiger?“ Offen gesagt: Wir würden uns im Zweifelsfalle dann doch für Schlingensief entscheiden.

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