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Der Friede, der zum Krieg führte

■ Eine szenische Rekonstruktion des Münchner Abkommens

Hitler steht auf der großen Treppe im „Führerbau“ am Münchner Königsplatz (heute die Hochschule für Musik) und wird von Roger Willemsen interviewt. Willemsen hat Hitler den „Spiegel Nr. 40/94“ aus der Manteltasche gezogen. Hitler liest daraus einige Sätze des Historikers Ernst Nolte vor, in denen dieser den Zweiten Weltkrieg als „europäischen Einigungskrieg“ bezeichnet. Danach zitiert er aus den „Überlegungen zur europäischen Politik“ der CDU/CSU-Fraktion vom September 1994: „... Könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europas in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.“ Viereinhalb Stunden lang haben die 600 Zuschauer zu diesem Zeitpunkt Adolf Hitler ausschließlich in Originalzitaten (oder aus zeitgenössischen Quellen zitierend) gehört. Dem Münchner Schauspieler Hans Brenner ist dabei eine Glanzleistung gelungen. Er könnte am Ende dieses denkwürdigen Abends eine Speisekarte vorlesen, und man würde dabei den Wahnsinn Hitlers vibrieren hören.

Am Tag der deutschen Einheit, ziemlich genau 57 Jahre nach dem Münchner Abkommen, hat der AStA der Münchner Uni – nach einem Textbuch und eingerichtet von Thomas Schmitz-Bender – Hitler, Chamberlain (dargestellt von dem BBC-Journalisten Denys Blakeway), Mussolini (die italienische Schauspielerin Maddalena Crippa), Daladier (der französische Literaturprofessor Jean Pierre Lefèbre) und Hitlers Dolmetscher Paul Schmidt (NDR- Moderator Götz Alsmann) am Originalschauplatz versammelt. Verfremdungen gehören für den Brecht-Fan Schmitz-Bender zum Programm. Dankenswerterweise aber läßt der allen Münchner 68ern wohlbekannte Ex-„Arbeiterbund“-Chef den Zeigefinger locker in der Tasche. So ist schon die Anfahrt der Politiker vor dem Führerbau nicht etwa ein düster- martialisches Spektakel, sondern inspiriert von Chaplins „Großem Diktator“. Die erste Besprechung wird für die Zuschauer im großen Musiksaal aus dem „Führerzimmer“ per Video (in klassischem Schwarzweiß) auf eine Großleinwand übertragen. Vor allem Mussolini-Crippa, die in fließendem Französisch und Deutsch Hitler an Weltläufigkeit ausstechen will, macht daraus ein Kabinettstück.

Wer befürchtet hat, nun würde ermüdend das gesamte Protokoll des Treffens nachgestellt werden, sieht sich schnell angenehm überrascht. Klug und unaufdringlich montiert Schmitz-Bender nach dieser ersten Besprechung die Vorgeschichte des Abkommens aus Originalquellen zusammen.

Was folgt, ist ein dramatischer Countdown bis „der Friede, der zum Krieg führt“ unterzeichnet wird: Chamberlains Visite in Berchtesgaden zwei Wochen vor dem Abkommen, sein Besuch in Bad Godesberg einige Tage später, der Austausch von Memoranden und Briefen zwischen Berlin, London, Paris und Prag vor der Konferenz.

Ab und zu läßt Schmitz-Bender das reine Protokollspiel unterbrechen und fügt Lehrmaterialien ein. Die tschechische Zeitzeugin Vera Pickova berichtet von den Demonstrationen in Prag kurz vor dem Abkommen. Die militärischen Kräfteverhältnisse von 1938 werden dargestellt, indem einzelne Gruppen von Zuschauern aufstehen müssen. Für Rußland tapst ein leibhaftiger Bär auf die Bühne. Kurz vor der Unterzeichnung ruft die deutsche Opposition: „Nicht unterschreiben!“. Das vermutliche Ergebnis eines Krieges zu diesem Zeitpunkt wird zu Ludwig van Beethoven und Kanonendonner durchgespielt. Die deutschen Divisionen, 1938 noch stark in der Minderheit, „fallen“ zurück in ihre Sessel. Und plötzlich bittet die deutsche Opposition Chamberlain und Daladier doch zu unterzeichnen.

„Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen“, zitiert Schmitz-Bender Bert Brecht. Ihm und seinem Ensemble ist eine eindrucksvolle, zum Nachdenken anregende „In situ“-Dokumentation gelungen. Denn die Fragen von 1938 führen ganz schnell in die Diskussionen von heute. Wieviel Wahnwitz sind wir bereit, „um des lieben Friedens willen“ in Kauf zu nehmen? Wo, wie (und gegen wen) gilt es zu kämpfen, wenn der Friede bedroht ist? Thomas Pampuch

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