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Hellwach bis zum Hörsturz

Orgeln in freier Natur: „Schlafes Bruder“, ein Heimatfilm aus dem Hause Vilsmaier  ■ Von Andreas Becker

„Flucht vor Gefühlen verbiegt die Menschen nur“, sagt Joseph Vilsmaier. Wer die zwei Stunden „Schlafes Bruder“ nicht durchhält, wird wohl mit gekrümmtem Rücken das Kino verlassen. Als Vorlage für seinen neuen Monumentalbergfilm hat sich Regisseur und Kameramann Vilsmaier den Roman von Robert Schneider ausgesucht, in dessen Klappentext behauptet wird, das Manuskript sei von 23 Verlagen abgelehnt worden. Dann erbarmte sich Reclam Leipzig des Werks, das sich der Berg- und Lebenswelt des 19. Jahrhunderts annimmt. Inzwischen sei das Schwarzwaldepos in 24 Sprachen übersetzt worden. Robert Schneider hat auch das Drehbuch zum Film verfaßt und durfte die Rolle des Kutschers spielen.

Mordsmäßig donnernd und krachend geht's los: Seffin Alder, die Frau vom Seff (nicht Sepp!) gebiert mit reichlich Filmblut ihr zweites Kind. Die Hebamme kann dem Blag zunächst keinen Ton entlocken. Totgeburt? Dann ein Schrei, den man im ganzen Dorf hört. Entsetzte Gesichter starren auf das Kind. Bei der Geburt des kleinen Musikteufelchens Elias, der Hundefrequenzen belauschen kann, sitzen echte Fliegen als Schauspieler auf der Gebärenden. So kommen Musikgenies zur Welt, in den Bergen Vilsmaiers.

Gottergeben wird geboren und gestorben, geblitzt und gedonnert. Die ersten Jahre wird Elias Alder versteckt gehalten. Später werfen ihm die anderen Kinder Steine hinterher. Seine Initiation zum Hör- und damit Musikgenie inszeniert Vilsmaier als bombastische, gern wiederholte Schlüsselszene. Der Jüngling lauscht nackt liegend am Fels, hört pfeifende Murmeltiere, blökende Schafe, muhende Kühe und summende Fliegen. All das Getier geräuscht heftig und hämmert uns das Hördrama des Elias ein. Dank monatelanger Soundtüftelei und der Unterstützung der Orgel des Salzburger Doms können die Tiere im Chor locker mit dem Höllenlärm von Apocalypse Now und Batman Forever konkurrieren. Unterschied zu Vietnam: In Eschberg besteht das Schlachtfeld aus Wiesen mit tumben Bauern, die ein Genie an der Ausübung seiner Kunst hindern wollen.

Als sich der brutale Dorflehrer erhängt, nachdem Elias ihn an der Kirchenorgel unter tosendem Beifall der Eschberger niedergespielt hat, steht nur er selbst seiner Karriere als Superorganist noch im Weg. Obwohl der Roman halbwegs ironisch mit den gottesfürchtigen, glupschäugigen Eschbergern umspringt, hat sich Schneider in seinem Drehbuch zu „Schlafes Bruder“ in Kooperation mit Vilsmaier („Ich mische mich in alles ein“) für eine leidenschaftslodernde Dreiecksgeschichte entschieden. Elias wird zerrieben zwischen Peter (Ben Becker, agiert leider hölzern wie im Fernsehkrimi), der seine unerfüllte Liebe zum Freund in heftiger Bearbeitung des Orgelblasebalgs zu kompensieren versucht, und Elsbeth (Dana Vávrová, Vilsmaiers Frau).

Während Elias nächtelang die leere Kirche unter Dauerorgelfeuer nimmt, schmachtet Elsbeth unbefriedigt in ihrer Holzhütte. Draußen trollt der grobschlächtige Lucas herum, dem Elsbeth versprochen ist. Als Elsbeth irgendwann aus lauter Frust doch mit Lucas ins Heu steigt, explodieren in Elias Hirn die Murmeltiere (Peter reibt sich die Hände, kommt aber auch nicht zum Zug). Unglücklich gräbt das Genie sich in seine Klangwelt animalischer Orgelpfeifen ein. Mittendrin brennt halb Eschberg ab. Das Filmdorf hat Vilsmaier originalgetreu im österreichischen Gaschurn bauen lassen. Ein Riesenaufwand, den sich 65.000 Wanderer angeschaut haben sollen, bevor die Holzhäuser aus Gründen des Landschaftschutzes wieder zerlegt wurden. Inzwischen fordern Eschberg-Fans den Wiederaufbau der Filmgemeinde.

Der Heimatfilm eines Trenker oder ,Unterm Dirndl wird gejodelt‘ waren stilisiertes Alpenglühen. Trost und Erbauung für all diejenigen, die einen Krieg „verloren“ hatten und nicht die schöne Illusion verlieren wollten, die Amerikanisierung ihrer „Heimat“ ließe sich noch aufhalten. Vilsmaiers Fortschreibung des Heimatfilms aber, könnte sich als durchgeknalltes Ethnoalpendrama als durchaus hollywoodkompatibel erweisen. In seiner Perfektion ist der „Stalingrad“-Nachfolger amerikanisch, in seinem staubtrocken ernsten Duktus so deutsch, wie es von uns im Ausland erwartet wird. So wurde „Schlafes Bruder“ schon in der amerikanischen Zeitschrift Variety vorabgelobt. Ein zweiter Exportschlager nach dem „Boot“? Auch in Deutschland dürfte das detailbesessen auf Authentizität setzende Gebirgsdrama Anhänger finden. Denn irgendwie schafft Vilsmaier es, unsern Widerstand gegen sein tiefdräuendes Werk durch Dauermurmeltierbeschallung oder was auch immer zu brechen. Verkannte Genies, unfähige Liebende, tumbe Bergbauern, die wir insgeheim ja auch alle sind, laden zur Identifikation ein. Bei aller Ablehnung solch eines Gefühlsoverkills werden wir zu Mitgefangenen der Eschberger, wenn sie durch den Schneesturm tappen und der greise Pfarrer bei einer Taufe eine Beerdigungszeremonie durchzieht, ohne daß sein blinder Gehülfe (Heinz Emigholz) etwas dagegen ausrichten kann.

Der manische Elias, von André Eisermann (unlängst als Kaspar Hauser zu sehen) furchterregend besessen gespielt, zerbricht, wie sollte es anders sein, an Genie, Wahnsinn und Unfähigkeit zur Liebe. Wer liebt, schläft nicht, sagt ihm ein Köhler, als hätte er auf dieses Motto gewartet. Fortan schläft er nicht mehr nur nicht mit Elsbeth oder Peter, Elias schläft gar nicht mehr. Die Totgeburt stirbt mit 22, der Heimatfilm lebt.

„Schlafes Bruder“, nach dem Roman von Robert Schneider, Regie: Joseph Vilsmaier; mit André Eisermann, Dana Vávrová, Ben Becker, 127 Min.

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