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Durch den Sucher: Ein Staat verschwindet

Fünf Jahre nach der Wende ist noch nicht alles gut. Der Thüringer Fotograf Wolfgang Korell zeigt ohne Nostalgie und voller Schärfe ein Land in Auflösung. Eine überhaupt nicht schwarzweiße Bilanz des Einigungsprozesses  ■ Von Udo Scheer

Gebannt verfolgt Erich Honecker das Fernsehgeschehen. Er nimmt die Welt gefiltert wahr, und wir beobachten ihn von der Seite und gleichzeitig von oben. Eine schrägstehende Spiegelwand macht's möglich, denn der einst Mächtige ist eine täuschend echte Puppe im Museum. Ein anderes Foto zeigt PDS-Chef Gregor Gysi. Auf dem Bild daneben seine Anhängerschar. Alle blicken sie glücklich nach oben. Dankbarkeit. Kein Zweifel, da, wo Gysis emporgereckter Finger aus der geballten Faust hinstößt, spricht die Offenbarung. Sein konzentriertes Auge nimmt die Botschaft auf, der Mund verkündet sie. Ein paar Seiten weiter halten die Jünger Mahnwachen für „45 Jahre DDR“. Zwischen diesen beiden Adepten der Macht dokumentiert der 1949 in Jena geborene Fotograf Wolfgang Korall auf mehreren Bilderbögen die Zwiespältigkeit des Einigungsprozesses. Eine Bilanz von fünf Jahren.

Davor zeigt ein Zyklus überflüssig gewordenes Niemandsland in seiner Auflösung. Doppelzäune und Beobachtungsbunker rufen noch einmal Beklemmungen wach. Dabei hängt der NVA- Stahlhelm bereits – nicht am berühmten Nagel – sondern am Gittergeflecht in einem freigepickelten Mauerloch.

Der Schriftsteller Lutz Rathenow geht in seinen Textbeiträgen nur punktuell auf die Bilder ein. Er folgt den eigenen Eindrücken, plaudert sich durch Vor- und Nachwendeepisoden oder abstrahiert und pointiert. „Nicht jedem Staat gelingt es kurz vor der Pleite, im nächstgrößeren unterzuschlüpfen.“

Koralls Schwarzweißfotos nennen den Preis für dieses Unterschlüpfen. Da degeneriert „Bananenfred“ südfruchthungrige DDR-Bürger zu Konsumenten. Und am Ende hat die „Aufschwung-Ost“-Begattung einen sterilen, menschenleeren Konsumtempel hervorgebracht. Dazwischen werden neue Zäune errichtet – Bauzäune und Werbewände. Dahinter künden Kräne und Kaufmärkte vom Einzug des Westens. Ostprodukten bleibt kaum eine Chance. Um so überdimensionaler prangen F6, Spree und Rotkäppchensekt als Werbekulisse vor einer Imbißbude. Mancher wirkt gehetzt und unzufrieden. In den Nischen wachsen DDR-Nostalgiekneipen, Gemütlichkeit 1995. Kunst und Kommunikation, Szenecafés, das Kunsthaus „Tacheles“ und Theater leben aus Ruinen.

Über dem „Neuen Theater“ in Halle steht an einer Fassade die Frage: „To be or not to be, that is the question.“ Auf englisch, russisch und deutsch. Industrie ist an den Horizont verbannt. Kaum noch Hoffnung spricht aus den Zügen des Arbeiters an „seiner“ Kesselanlage in der Filmfabrik Wolfen. Oder später, allein in dem viel zu groß gewordenen Duschraum.

Es sind Fotos ohne Weichzeichner. Sie sparen die Suppenküche nicht aus. Dennoch verschwimmt der Blick nicht in Nostalgie oder Traurigkeit. Wolfgang Korall präsentiert authentische Aufnahmen vom Umkehrpunkt einer Gesellschaft nach ihrem Konkurs. Mittendrin überzeugen Porträts voller Selbstbewußtsein und Energie. Jugendliche gehen auf Distanz. Sie scheinen zu entschweben, beobachten aus sicherer Höhe. Der Umbau der Gesellschaft ist ein Spiel, „dem allerdings einige Teile fehlen. Auch eine Gebrauchsanweisung gibt es nicht“, kommentiert Rathenow. „Ein Staat ist verschwunden. Geblieben sind Momentaufnahmen von einem Stück Geschichte“. Wolfgang Korall stellt sie mit guten und einigen sehr guten Fotos vor.

Wolfgang Korall: „Wende gut, alles gut? Bilder aus Ostdeutschland.“ Mit Texten von Lutz Rathenow, Kindler Verlag, München 1995, 120 S., 100 Schwarzweißfotos, Format 27 x 29, 49,80 DM

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