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Das Leben geht weiter

■ In der Stadt verändert sich weniger als erhofft und als befürchtet

Jetzt regiert die Große Koalition also 100 Tage – und je länger desto mehr fragt sich ein jeder: Was zum Teufel ist eigentlich anders geworden in unserer Stadt?

Wer erwartet hatte, die neue Regierung würde mit harten schnellen Schnitten, die keine gesellschaftliche Gruppe schonen, und mit Worten, die die Stadt aufrütteln, ein neues Kapitel bremischer Stadtgeschichte aufschlagen, sieht sich enttäuscht. Weder symbolisch noch konzeptionell ist dieser Weg zu erkennen. Bis heute hat der Senat offenkundig keine Idee davon, wie er die Bürger der Stadt für die Politik der Sanierung gewinnen will.

Das Leben geht weiter. Und – man ahnt es schon – keines der großen Probleme wird gelöst werden, es sei denn, es löst sich durch die Macht der Umstände. Und der mächtigste Umstand ist sowieso die strukturelle Pleite der bremischen Finanzen und die allenthalben bröckelnde industrielle Basis der Stadt. Die wider besseren Wissens, aber mit der Autorität des Sparkassenmanagers ausgegebenen Ziele des forcierten Schuldenabbaus sind längst klammheimlich in den Papierkorb gewandert.

Es wird die neuen Senatoren nach einer ersten Durchsicht der Akten das sichere Gefühl umschlichen haben, daß für große Rhetorik und kernige Gesten das Ziel und die Mittel fehlen. Und im übrigen fehlt in einer vergleichsweise kleinen Stadt wie Bremen vor allem auch die Distanz zu den Bürgern. Also ist Vorsicht die Mutter der politischen Karriere. Und jeder verläßt sich so gut er kann aufs eigene Talent. Und so wird's nolens volens wieder typisch bremisch. Bis jetzt.

Die Innovation scheint sich darauf zu beschränken, daß die CDU-Senatoren ihre Wirtschaftskontakte und den Draht nach Bonn in die Senatsarbeit einbringen. Und man kann nur hoffen, daß sie das gut machen. So banal wie weitreichend: das Wichtigste an der Großen Koalition scheint zu sein, daß die Handelskammer, der Weserkurier und die CDU nicht mehr in der Opposition sind.

Und – oh Wunder – der patriotische Optimismus greift um sich. Der Ring Deutscher Makler verzeichnet ein gesteigertes Vertrauen in bremische Immobilien, und der Konjunkturbericht der Handelskammer kündigt Umsatzzuwächse in den wichtigsten Branchen an. Weserkurier und Handelskammer entwickeln auf einmal ein Verständnis für die Schwierigkeit des Regierens und erfüllen im positiven Denken ihre staatsbürgerliche Pflicht. So kann es eine Weile gutgehen.

Von wegen gut. Für die SPD geht es sowiso ums Ganze. Für die Sozialdemokraten geht es um das Überleben als politische Kraft in der Stadt, und damit steht es im Moment erkennbar schlecht. Ein Blick auf die senatoriellen Interviews (Kahrs und Wischer) der letzten Wochen zeigt das immer gleiche Bild: Wir haben die guten Absichten, und wir haben die bösen Fakten. Leider geht beides nicht zusammen. Eine Entscheidung wäre fällig. Aber bis es soweit ist, wird erstmal um Haltung gerungen. Lange ist es her, daß die Sozialdemokraten ein soziales Anliegen mit dem Hiweis auf Gerechtigkeit verbunden haben, statt nur auf die Gefahr der Störung des sozialen Friedens zu verweisen.

Die Komplimente an Projekte und Initiativen und alle die, die soziale, kulturelle oder pädagogische Arbeit machen, stehen dabei im Rang eines immer wieder gern vorgetragenen und vermutlich sogar ernst gemeinten Bekenntnisses. Nichts ist jetzt wichtiger als Selbsthilfe. Nichts ist wichtiger als die flexible und innovative und selbstverständlich grenzenlos engagierte und billige Arbeit am Gemeinwesen, an der Umwelt, am sozialen Rand, an der Gesundheit, an der Erziehung.

Aber nicht nur die Haushaltsexperten der betreffenden Ressorts wissen: Es wird gerade diese Struktur treffen. Und zwar gerade weil sie so flexibel und staaatsfern – also ungesichert – ist. Jede andere Entscheidung wäre eine echte Überraschung und würde auf Politik schließen lassen, statt auf das blinde Wirken des Sachzwangs.

Sowenig wie im Moment die politische Oberfläche der Regierungspolitik besonderst ernst genommen wird, sowenig findet sich bei den alten Kämpen aus den Initiativen eine besondere Entschlossenheit, sich in die Auseinandersetzung zu stürzen. Ausgepowert und mittlerweile von den eigenen guten Argumenten gelangweilt, hat kaum einer Lust, die Gebetsmühlen anzuschmeißen, die sonst in den Vormonaten der Haushaltsaufstellung allenthalben zu hören sind. Es verbreitet sich eine Stimmung angespannter Aufmerksamkeit für Hintergrundgeräusche. Und man tröstet sich mit der Erfahrung, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es vom Ofen kommt. Und daß man es schließlich in den letzten vier Jahren auch irgendwie geschafft hat. Auch wenn's pathetisch klingt: Das Leben in der Stadt ist zäh und so einfach nicht zu ruinieren.

Aber wer wollte bestreiten, daß in dieser ausgepowerten Stadt, in der die Arbeitslosenquote seit mehr als 12 Jahren höher als zehn Prozent liegt, der Zusammenhalt ernsthaft in Gefahr ist. Die Wahlbeteiligung in Bremerhaven ist dafür nur ein Hinweis unter vielen. Und daß die Zustimmung, die die CDU für den Senat im Moment auf dem einen Flügel der Stadt gewinnen kann, auf dem anderen in Massen wegbricht? Robert Bücking

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