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Vorne Kirche, hinten Coke!

„Rom des Baltikums“ klingt einleuchtend, „Jerusalem des Ostens“ erstaunlich: Vilnius, Hauptstadt Litauens, ändert sein Gesicht oder: Wenn der Westen zu Besuch kommt  ■ Von Martin Unfried

Verschissene Toiletten und proppenvoll, warnt der Reiseführer vor Litauen – die Anreise mit der Bahn sei nicht zu empfehlen. Völliger Kokolores! Um 23 Uhr schleicht der Zug aus dem Berliner Bahnhof Lichtenberg. Am nächsten Morgen ist er in Warschau und am Abend, nach einem spektakulären Achsenwechsel beim polnisch-weißrussischen Boxenstopp, bereits in Vilnius (Wilna), der Hauptstadt Litauens. Da der Zug weitgehend leer ist, beschlafe ich ein Dreierabteil mit Air-condition und Waschbecken. Prima!

Draußen huschen die ersten buntgestrichenen litauischen Holzhäuser vorbei. Im Abteilflur lerne ich Raimondas kennen. Seelenruhig plaudert der Litaue aus seinem Leben. Er ist promovierter Biologe, arbeitet an einem Institut für Biotechnologie. Gerade war er geschäftlich in Hannover. Litauen will nämlich am pharmazeutischen Weltmarkt mitmischen. Raimondas sagt, die Biotechnologie sei in Litauen heute deshalb hoch entwickelt, weil Moskau dort vor Jahren noch ein sowjetisches Forschungszentrum gegründet habe. Raimondas mag E-Mail und World Wide Web. Seine Frau holt ihn mit dem Auto vom Bahnhof, ab, und morgen gehe es ins Ostseebad Palanka zum Strandurlaub.

„Alles ganz normal. Wer das Geld hat, kauft sich ein gebrauchtes deutsches Auto“, sagt Arvydas, der Tage später in einem Studentencafé in der Nähe der Universität zufällig am selben Tisch sitzt. Arvydas ist Architekturstudent und „normal“ sein deutsches Lieblingswort. Aber normal sind inzwischen auch die Mißverhältnisse. Normal, sagt Arvydas, bringe ein Job im Monat 300 Litas (120 Mark). Normal sei jetzt aber auch, daß es in der Kneipe Pils aus Jever für 6 Litas gibt, daß sich im Supermarkt das Mineralwasser aus Fulda stapelt, daß Snickers und italienische Pasta die Regale füllen. Es fehlt an nichts, außer an bezahlbaren Preisen. So ist es auch normal, daß die Alten mit 150 Litas Rente im Monat keine Chance haben. Selbst Brot und Butter sind nicht gerade billig. Dafür gibt es die litauische Milch jetzt im Tetra Pak. Es herrschen also stinknormale osteuropäische Verhältnisse.

Die neue Armut scheint aber in Litauen noch gut versteckt zu sein. Sie ist im Stadtbild nicht präsenter als der neue Reichtum der BMW-Fahrer, deren Alarmanlagen an jeder Ecke heulen. Nur wer beim Bummel durch die Pilies, die rausgeputzte Hauptstraße der Altstadt, die Augen offenhält, sieht die aufgehaltenen Hände. Alte Männer mit blauen Plastiktüten („Schlecker“) räumen vom Cafétisch die Colaflaschen ab, um sich das Pfand zu verdienen. Vor den unzähligen Kirchen stehen kleine Grüppchen von gebeugten, bettelnden Frauen. Andere versuchen ihr Glück am Tor der Morgenröte. An diesem wichtigen Pilgerziel des katholischen Litauens guckt eine gemalte Madonna durch ein geöffnetes Fenster geheimnisvoll auf die Straße herunter. Am Wochenende sieht sie hier Pilger aus Litauen und Polen zu einem klerikalen Meeting versammelt. Diese knien auf der Straße, beten und tragen alle ein T-Shirt, das zwei wichtige Komponenten des neuen Litauens vereint: Es wirbt vorne für die Kirche, hinten für Coke.

Die übersichtliche Altstadt von Vilnius hat eigentlich alles, was ein Reisebus braucht: die mittelalterliche Burg, die klassizistische Kathedrale, das barocke Univiertel, den Fluß Neris mit Schiffscafé, das moderne Opernhaus, das Kunstmuseum, den Boulevard zum Bummeln namens Gedimino. Zwar verrät ein Blick vom abseits gelegenen Fernsehturm, daß die Hälfte der rund 600.000 EinwohnerInnen in wenig pittoresken Plattenbauten wohnt, doch die Innenstadt lebt: neue Cafés, Benetton, Discos usw. künden von der Ankunft des Westens. Und doch ist Vilnius im Frühherbst so gut wie unbesucht, von ein paar Skandinaviern und wenigen Deutschen abgesehen. Das macht Atmosphäre: Die Stadt gehört ihren Einwohnern, die noch Plätze und Kirchen beherrschen. „Rom des Baltikums“ kolportiert der Reiseführer, was angesichts der bereits renovierten barocken Pracht recht einleuchtend ist.

Dagegen erstaunt ein anderer historischer Beiname: „Jerusalem des Ostens“. Im ehemaligen jüdischen Viertel ist außer einem kleinen jüdischen Museum nicht mehr viel zu sehen. Von ehemals fünfzig Synagogen steht nur noch eine einzige. Den deutschen Besatzern und litauischen Handlangern haben vier Jahre gereicht (1941–44), um die große jüdische Gemeinde zu vernichten.

Dann kamen die nächsten Okkupatoren. Das Land wurde Sowjetrepublik, und viele LitauerInnen wurden nach 1945 wegen des Vorwurfs der Kollaboration nach Sibirien deportiert. Später auch weil sie nicht in die Kolchosen wollten. Der Schrecken hat sich in Litauen lange gehalten. Auf der großen Neris-Brücke protzen noch die steinernen Helden der Landwirtschaft mit sozialistischen Muskeln, vereinzelt sind kyrillische Straßenschilder hängen geblieben. Doch es scheint, als habe man ansonsten sorgfältig die Spuren der Sowjetunion verwischt. Zwei Plätze wurden zum Symbol des litauischen Freiheitskampfes von 1991: Vor dem modernen Parlamentsgebäude stehen noch Reste der Barrikaden, vor denen sich viele Menschen gegen russische Panzer stellten. Am Fernsehturm ehrt eine Ausstellung jene, die bei der Verteidigung des Fernsehzentrums starben. Auch nach vier Jahren schmücken Kreuze und Blumen die Stelle, an der Sechzehnjährige von Panzern überrollt wurden, weil sich damals Teile der Sowjetarmee dem Moskauer Putsch angeschlossen hatten.

Vor der Kathedrale verkauft eine Rentnerin Postkarten, die einen der politischen Helden von damals zeigen: Vytautas Landsbergis, Mitbegründer der nationalen Sajudis-Bewegung. Der war nach 1991 für kurze Zeit der erste Staatspräsident. Doch vor zwei Jahren haben die Wähler, wie anderswo in Osteuropa auch, für gemäßigtere Reformen gestimmt.

Jetzt ist mit Staatschef Brazauskas wieder ein alter Kader an der Macht inklusive umgetaufter Partei. Dieser soll wegen seiner harten Antimafia-Politik gar nicht so unpopulär sein. Im Baltic Observer, einer englischsprachigen Wochenzeitung, steht höchst Merkwürdiges über die Hinrichtung eines gewissen Boris Dekanidze. Der Mafiaboß war verurteilt worden, weil er einen mutigen Journalisten ermorden ließ. Erst jetzt hat die Regierung wissen lassen, daß Dekanidze irgendwann im Juli durch einen Schuß in den Hinterkopf hingerichtet und aus Angst vor Racheakten an einem geheimen Ort bestattet wurde. Die Souveränität des jungen Staates scheint an Grenzen zu stoßen. Seine Glaubwürdigkeit auch. Im Lande kursieren jetzt wilde Gerüchte, wonach sich Dekanidze in Wahrheit freigekauft habe und nun unter falschem Namen im Ausland lebe. Vielleicht ist das eines der unsichtbaren Andenken der Sowjetunion: Man traut dem Staat nicht, man traut ihm alles zu.

Am Abend sitze ich mit Arvydas und seinem Kumpel Deinius in einer der neuen Altstadtkneipen, einem irischen Pub mit Guinness und kleinen Speisen. Im offenen Hinterhof spielt eine Bluescombo. Arvydas ist knapp unter Dreißig und verbrachte, wie er zynisch sagt, seine schönsten zwei Jahre in der Sowjetarmee. In Dresden, wo er stationiert war, riefen die Kinder ihm „Ruski“ nach. Später mußte er in die Ukraine, in die Nähe von Tschernobyl. Das war kaum ein Jahr nach der Katastrophe. Deinius dagegen war als Soldat im Kaliningradgebiet (Königsberg). Natürlich spricht er neben Litauisch und Englisch auch perfekt Russisch. Diese Sprache hat schließlich lange sein Leben bestimmt. Von Rußland erwartet Deinius jedoch nichts. Jedenfalls nichts Gutes. Das Kaliningradgebiet – heute eine russische Enklave mit Grenzen zu Polen und Litauen – sei jetzt nichts anderes als eine große Militärbasis. Als die Russen 1993 aus den baltischen Staaten abzogen, sagt Deinius, seien Truppen auch dorthin verlegt worden. So ist Tschetschenien nicht weit, wenn man in Vilnius sitzt. Aber eigentlich interessieren sich die Jungs mehr für die Fußballbundesliga als für die russische Innenpolitik. Hat nicht Klinsmann eine amerikanische Frau geheiratet? Was macht Heiko Herrlich?

Manchmal ist der Westen ganz nah. Am folgenden Abend hat man Herrn Cocker ins Fußballstadion eingeflogen. Er betritt die Bühne, stellt kurz den lokalen Bezug her („Hello Lithuania“), und dann sitzen klatschende Mädchen auf den Schultern ihrer schwitzenden Macker. Normal! Morgen wird Cocker im benachbarten Hannover brüllen. Auf sentimentale Gesten wird längst verzichtet – von wegen „wind of change“. Dafür strahlt über der Bühne riesig deutsch der Name des Sponsors: „Stern von Litauen“. Links und rechts thronen auf Altären Stuttgarter Limousinen, und „with a little help from my friends“ verkünden sie das Ende der E-klassenlosen Gesellschaft. Erst als Joe nach routinierten 90 Minuten die Bühne verläßt und das grelle Flutlicht anspringt, sind die uralten schmuddeligen Trolleybusse mit Oberleitung wieder da. Die schaukeln Arvydas und die anderen zurück zu den Zweizimmerwohnungen ihrer Familien, wo erst noch die Betten im Wohnzimmer aufgebaut werden müssen. Da liegt er dann, und vielleicht schmerzen ihn dann auch die 60 Litas, die die Eintrittskarte gekostet hat. Ein Vermögen! Doch bereut wird nix.

Vom Osten in den Westen und zurück, an einem Abend. Wie war's? „Ganz normal“, sagt Arvydas.

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