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Gleise der Sehnsucht, des Hasses

Der Passagierbahnhof in Minsk duckt sich fast ängstlich vor dem halbfertigen Komplex des neuen Bahnhofs. Durch einen düsteren Tunnel erreicht man die Bahnsteige. Ein Streifzug  ■ Von Andreas Maus

Heilwasser aus Brest wird gegen zwei Uhr früh unter den Zugfenstern verkauft. Beim Öffnen entfernt sich, anstatt des Deckels, der ganze Flaschenhals. Brest – das Tor nach Weißrußland. Noch liegt es einige Kilometer vor uns. Wir stehen in dem Grenzstädtchen Teraspol, starren müde in die Dunkelheit. Hier geht die mitteleuropäische in die osteuropäische Zeit über, hier werden allen Waggons buchstäblich die Räder samt Achsen unter dem Bauch weggestoßen, durch breitere Fahrwerke ersetzt. Um vier Uhr setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Die Fahrt ist noch gemächlicher geworden und das Schaukeln majestätischer. In der Morgendämmerung schwebt die Landschaft lautlos vorbei, sie wirkt jetzt großzügiger als zuvor in Polen.

„Anfang April“, sagte der Dichter Mandelstam, „kam ich nach Suchumi – in die Stadt der Trauer, des Tabaks und der duftenden Pflanzenöle.“ Klangvolle Worte. Über Minsk läßt sich das kaum sagen. Es ist eine unspektakuläre Zweimillionenstadt, in der einige wichtige Industriezweige angesiedelt sind. Eine große Traktorenfabrik zum Beispiel.

Minsk, das ist Durchgangsstation für jeden, der nicht in ihr zu Hause ist, der nicht Weißrusse ist und der sich der Stadt auf Schienen nähert. Die Reisenden blinzeln, wenn überhaupt, aus schmutzigen Abteilfenstern in die grelle Bahnsteigbeleuchtung, registrieren einen längeren Aufenthalt, das Ruckeln des Zuges und hören die Lautsprecheransage, daß die letzte elektrische Bahn nach Baranovitschi gleich abfährt. Denn meistens ist es Nacht, wenn die imposanten Züge von jenseits der Grenzen hier einlaufen. Die Nacht, auch heute noch die Domäne der Fernzüge.

Minsk-Passashirski. Mit uns steigt eine Handvoll Gestalten aus. Der Zug rollt weiter gen Moskau und hinterläßt zu unseren Füßen das Schimmern nasser Gleise. Jene Gleise, die ranghohe west- und osteuropäische Verkehrsplaner bereits zu einer Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-Warschau- Minsk-Moskau ausphantasieren. Doch seltsamerweise weiß kaum ein Eisenbahner vor Ort von solchen Gedankenspielen.

Wir besuchen Jewan Alfonsowitsch, Chef der Minsker Eisenbahn. Von seinem Schreibtisch blickt er direkt auf eine Großbaustelle neben dem Bahnhof. Wird hier etwa schon geplant und gebaut für die neue E 20? Jewan Alfonsowitsch schüttelt ungläubig den Kopf. Nie davon gehört. Hier werde zwar ein neuer Bahnhof gebaut, sagt er, aber die Baustelle sei alt. Die neue Wartehalle ist sogar fertig. Drei mächtige Rolltreppen führen von den Bahnsteigen hinauf, stehen aber still. „Eine neue Konstruktion aus Petersburg“, brummt unser neuer Begleiter, Wladimir Alexandrowitsch, der Bahnhofsvorsteher. „Wir werden sie wieder herausreißen, die taugen nichts!“

Zwischen endlosen Schlangen ruhender Waggons streifen wir umher. Menschen und Arbeiter, denen wir begegnen, folgen uns aufmerksam mit den Augen. Eisenbahner wie aus einem anderen Jahrhundert: Mit riesigen Koksbrocken auf den Schultern hangeln sie sich in die Waggons. Eine Kolonne von Gleisarbeitern kommt heran. Der Mann, der am lautesten lacht, der Kolonnenführer, neigt seinen Kopf so, daß man nicht umhin kommt, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Doch kaum hat er seinen Namen genannt, Fjodor Leonidowitsch, da verstummt er. Eine junge, elegant gekleidete Dame ist plötzlich hinter dem Waggon nach Frankowsk (Ukraine) aufgetaucht. Um ihren Hals schmiegt sich ein beiger Pelz, in ihrem Haar krallt sich ein kurioses Hütchen fest. Die Kolonne drückt sich wortlos gegen die Waggons und bildet ein Spalier. „Sie sehen sehr elegant aus, arbeiten Sie auch bei der Eisenbahn?“ Die Dame nickt. „Und als was?“ In diesem Augenblick mischt sich eine rauhe, weibliche Stimme aus der Kolonne ein. Es ist die Stimme von Lida Ikentschowna, seit 28 Jahren zuständig für die Reinigung der Gleise. „Als was? Was soll das schon für ein Beruf sein, im Schlafwagen? Schaffnerin!“ höhnt sie. Bei diesen Worten platzt Fjodor Leonidowitsch der Kragen und es kommt zu einer kleinen Rangelei zwischen beiden. Doch alles halb so wild. „Belarus“, grinst die Ikentschowna, „ist ein ruhiges Land!“ Zur Bekräftigung ihrer Worte winkt sie einen Soldaten heran, einen jungen Milchbart mit kugelrundem Gesicht, der inmitten der Waggons einen Durchgang zu suchen scheint. „Komm her, Junge! Wie heißt du?“ – „Andrej Stepanowitsch“, antwortet der junge Mann verdutzt. „Bist du bei der Miliz?“ – „Nein, bei der Armee.“ – „Schon lange?“ – „Sieben Monate.“ – „Na, dann hast du keine Ahnung!“ beendet Lida Ikentschowna mit einer abfälligen Geste das Verhör.

Von einem nahe gelegenen Bahndamm ist der Bahnhof leicht zu überblicken. Das neoklassizistische Hauptgebäude, in den fünfziger Jahren erbaut, duckt sich fast ängstlich vor dem halbfertigen Komplex des neuen Bahnhofs. Davor dösen vier Bahnsteige, die man durch einen kaum beleuchteten Tunnel erreicht; daneben noch einmal acht Gleise für Rangierarbeiten und den schlafenden Wagenpark.

In der Größe entspricht das Ganze ungefähr dem Bahnhof einer mittleren deutschen Stadt. Doch seit wann sagt die Größe etwas über die Bedeutung aus? Minsk ist eine wichtige Drehscheibe für Züge in den aufgewühlten Osten. Die Tafeln auf den Waggons zeugen noch heute von der Größe des ehemaligen Sowjetreiches: Minsk–Kiew, Minsk–Sofia, Minsk–Riga, Minsk–Berlin, Minsk–Donezk, Minsk–St. Petersburg...

Wer ist hier nicht alles gereist? Heimatlose Revolutionäre um 1916 nach Moskau, die russischen Emigranten der zwanziger Jahre nach Berlin (Bely, Zwetajewa, Nabokov ...), die Dissidenten der sechziger und siebziger Jahre aus der Sowjetunion nach Westeuropa. Ausgestiegen ist in Minsk sicherlich keiner, wohl nur wieder ein paar Blicke in das gelbe Bahnsteiglicht getaucht, die Gedanken längst dort, wo die geliebte Heimat und das verhaßte Regime seine Grenze hat. So ist der Minsker Bahnhof heute vor allen Dingen eines: eine Station, gelegen an einem 2.000 Kilometer langen Schienenstrang, der unzählige Erinnerungen und Sehnsüchte weckt, so viele Ost-West-Träume.

Das Büro des Rates der Veteranen befindet sich auf der Kirowa- Straße, im Hause des Transportministeriums. Hier machen wir Bekanntschaft mit Wladimir Gawrilowitsch Nexajtschik, 86 Jahre alt. Er ist der älteste noch lebende Veteran. Nach einer kurzen Begrüßung mit Brot und Tee lädt er uns ein, das Minsker Eisenbahnmuseum zu besichtigen. Wir schlüpfen in unsere Mäntel und stapfen durch die Kirowa-Straße. Unser Gang endet vor einer großen Tür auf der „Museij“ geschrieben steht. Wladimir Gavrilowitsch müht sich geduldig an den Mechanismen der Tür. Nach zehn Minuten gibt sie nach, und wir versinken in einem schummrigen, mit rotem Samt ausgeschlagenen Raum. Wladimir Iljitsch schaut auf uns herab, zu dessen Büste am anderen Ende des Raumes ein Teppich unsere gedämpften Schritte lenkt. „Das ist das Museum unseres Depots!“ erklärt Wladimir Gavrilowitsch. In großen Vitrinen ist hier die Geschichte der Minsker Eisenbahn festgehalten. Über Lenins Haupt, auf dem sich auch heute noch kein Staubkorn dauerhaft niederlassen kann und das große Teile seines Lebens in Zügen und Waggons durchgeschüttelt wurde, ist folgender Ausspruch zu lesen: „Die Eisenbahn – das ist der Nagel, das ist von allen existierenden die stärkste Verbindung zwischen Stadt und Land, zwischen der Industrie und der Landwirtschaft. Darauf gründet sich der Sozialismus.“

Der Sozialismus wie das Pathos sind auch in Minsk längst Vergangenheit. Zum Abschluß bittet Wladimir Gavrilowitsch uns, ein paar Zeilen in das Gästebuch des Museums zu schreiben. Die letzte Eintragung ist datiert auf: November 1985. Das Jahr der Perestroika, des Umbruchs.

„Der Bahnhof, das ist der Spiegel unseres Lebens und unseres Landes“, sagt Jewan Alfonsowitsch, der Chef von mehr als 700 Eisenbahnern. Nur noch wenige sind es mit Haut und Haaren. Die schiere Not hat die meisten heute auf den Bahnhof getrieben, denn die Eisenbahn garantiert wenigstens einen Minimallohn, noch. Ausgestorben sind jene idealistischen und bisweilen merkwürdigen Gestalten, die ihr Leben vollständig dem rhythmischen Stampfen der Loks und Waggons gewidmet haben, getrieben von jener Emphase des Aufbruchs, als die „Eisenbahnifizierung“ der Sowjetunion ein Pfeiler des Kommunismus war.

Der Mechaniker Iossif Alfonsowitsch hat noch historisches Format. Seit 47 Jahren ist er auf dem Bahnhof, schlurft trotz seiner 71 Jahre unermüdlich durch die Waggonreihen und überprüft die Fahrgestelle. Ohne seine Arbeit, sagt er, würde er verkümmern. In Jewan Alfonsowitsch dagegen, dem Minsker Eisenbahnchef, hat nie das Herz eines Eisenbahners geschlagen. „Das Schicksal hat mich auf meine jetzige Position befördert“, bemerkt er lakonisch. Dann klingelt ein Telefon, eines von sieben. Mit einem Kopfnicken verabschiedet er uns. Und während seine Stimme irgendeinen Untergebenen niederbrüllt, streift sein Blick versonnen über die sumpfige Baugrube, wo gerade eine alte Frau, an einen Bretterzaun gelehnt, müde innehält.

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