Zeitschriften: Summen und Singen
■ Das Jahrbuch „Theater heute“ 1995
Zufällig habe ich den schönsten Text zuerst gelesen. Von einem, der beschlossen hat, keine Theaterkritiken mehr zu schreiben. Er fühlt sich plötzlich fünf Jahre jünger und konstatiert: „Ich glaube, das Theater hat meine Kritikerphase ziemlich unbeschadet überstanden.“ Offenbar ein häufiger Gast der Berliner Volksbühne, wo er die Herren Castorf und Marthaler stets in derselben Kneipe antraf: „Sie haben sich so eingerichtet, daß sie es lange hier aushalten können: Das Zerschmettern von Kohlköpfen ist, wenn man erst einmal die entsprechenden Muskeln trainiert hat, ein mechanisch endlos wiederholbarer Vorgang. Summen und Singen im Halbschlaf ist wahrscheinlich etwas anstrengender. Das Tolle, das Unvergleichliche an diesem Duo scheint zu sein, daß Castorf so viele Kohlköpfe zerschmettern kann, wie er will, ohne daß Marthaler jemals aufwacht.“
Gleich schlägt mein Frohsinn in Bedauern um: „Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters“, heißt donnernd die Überschrift zum Interview mit Burgtheaterchef Peymann. Wie wie neu! Das Burgtheater wurde mit fünf mauen Kritikerstimmen zum „Theater des Jahres“ gewählt. Laßt Studenten nachzählen, wie häufig diese Überschrift in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verwandt worden ist. Sie ist einfach unsterblich.
Weiter mit „Sieg und Platz“ in der Theaterhitparade: Als bestes Stück wurde Einar Schleefs „Totentrompeten“ nominiert; die beste Regie ging an Castorf für seine Jelinek-Vision der „Raststätte“; Martin Wuttke wurde für die Rolle des „Arturo Ui“ als Schauspieler des Jahres ausgezeichnet, Ursula Höpfner erhielt den weiblichen Darstellerpreis für die „Mariedl“ in Schwabs „Präsidentinnen“ (und Ehemann Tabori schrieb die Lobrede).
Viel Platz im Heft für die Sieger: Das Interview mit Martin Wuttke läßt Rückschlüsse auf seine Arbeit mit Schleef zu („eine Befreiung von dem Empfinden, daß Theater gleichmäßig sein muß“); Schleef erzählt in einem sehr persönlich gehaltenen Text von dem Konsens – Aussparung von Inhalten – zwischen den West-Intendanten und den Ost-Regisseuren, der das BRD-Theater künstlich am Leben gehalten hat; er erzählt weiter, wie er für seine Formmittel lange angefeindet wurde und sich nun überraschenderweise „gegen die Epigonen, die, machtvoll gefördert, meine Arbeiten und deren Ansatz zu eliminieren versuchen“, wehren muß.
Und der eigentliche Sieger, der neue Theaterkönig Berlins, wie jeder Monarch mit der ganzen Familie großformatig abgelichtet: Heiner Müller, von schwerer Krankheit genesener Dichter und inzwischen alleiniger künstlerischer Direktor des Berliner Ensembles, das nunmehr nur noch Brecht und Müller spielen will. Ihm und seinem Theater sind ein nicht unwesentlicher Teil des Heftes gewidmet (da ja auch Schleef und Wuttke dort arbeiten).
Immerhin verkündet Heiner Müller, es gebe bestimmt eine Menge junger Regisseure, die gut sind: „Das Problem ist nur, daß ich sie nicht kenne.“ Des weiteren einige Merksätze wie: „Beckett ist der Pillenknick in der Dramatik“, oder „Kultur gibt es nur auf der Basis von Toten. Von Vergangenheit. Dialog mit den Toten, Erinnerungen, Tradition. Wenn es mehr Lebende gibt als Tote, wird es gespenstisch.“ Außerdem kann man im Faksimile nachlesen, wie Heiner Müller unter dem Pseudonym Max Messer aufgrund des Schreibverbots nach der „Umsiedlerin“ Western für das DDR-Radio geschrieben hat: „Der Tod ist kein Geschäft“.
Das Ausland wird ausgeblendet, statt dessen wird der Begriff des Nationaltheaters erörtert, Jungregisseure diskutieren miteinander, ein Essay von Franz Wille fragt nach der Moderne und der Begründung der Gegenwart, die Heiner Müller als so übermächtig empfindet. Kurzum, alle sind unzufrieden (mehr mit dem Theater als mit sich), einer geht – die anderen sieht und hört man: nächstes Jahr in „Theater von gestern und übermorgen, aber selten von heute“. Sabine Seifert
Jahrbuch „Theater heute“ 1995, 17 Mark
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