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Prinz, Schwindler, Hysteriker?

Weiterstricken am Mythos Kaspar Hauser  ■ Von Katharina Rutschky

Die Frage, wer Kaspar Hauser war, woher er kam und wie er endete, wird wohl nie beantwortet werden können, trotz der Bibliothek, die man leicht mit den Veröffentlichungen über ihn und sein anregendes Schicksal füllen könnte. Fest steht nur eins, daß am 28. Mai 1828 ein junger Mensch plötzlich in Nürnberg stand. Zwei Schriftstücke hatte er bei sich, die aber im Roman, der sich schnell um ihn herum entwickelte, bald keine Rolle mehr spielten. Auf dem einen Papier überantwortete eine namenlose, uneheliche Mutter den Säugling dem christlichen Mitleid von Fremden. Sie könne sich um das Kind nicht kümmern; es sei getauft, heiße Kaspar und sein Vater, Soldat bei den Chevaux légers, sei tot. Man solle ihn, wenn er siebzehn ist, dorthin nach Nürnberg schicken.

Der unbekannte Pflegevater, der Kaspar, von wo auch immer, dort hinbrachte, teilte auf dem anderen Schriftstück mit, daß er das Kind aufgezogen, aber nie außer Haus gelassen habe. Er habe ihn Lesen und Schreiben gelehrt. Kaspar sei anstellig und gescheit; hätte er Eltern, wie er keine gehabt hat, so wäre er sicher ein gelehrter Bursche geworden. Nun soll er Reiter werden wie sein Vater. Er selbst sei arm, habe zehn Kinder und möchte aus Angst vor gerichtlicher Verfolgung unbekannt bleiben. Der Historiker wird die Geschichte gar nicht so unplausibel finden, insbesondere dann, wenn er das Tempo bedenkt, mit dem der angeblich in einem dunklen Verschlag über viele Jahre gefangengehaltene Kaspar, ohne menschlichen Kontakt, bei einer Diät von Wasser und Brot, Sprechen, Lesen, Schreiben und Dichten und auch sonst sich alles angeeignet hat, was man so zum Leben braucht. Kinder, die unter den genannten Umständen jahrelang vegetieren mußten, sehen bestimmt nicht so blühend, wenn auch blaß aus, wie von Hauser bezeugt.

Skeptische Fragen sind in der Hauserforschung, die Hermann Pies nach der Öffnung der Staatsarchive in den zwanziger Jahren begonnen hat und die nun sein Erbe Johannes Mayer fortsetzt, aber tabu. Gute Menschen glauben an das „Kind Europas“, das Opfer eines Verbrechens am Seelenleben und einer dynastischen Intrige geworden ist, übernehmen post festum die Rolle der Retter und Rächer; Böse halten und hielten ihn schon im 19. Jahrhundert für einen Betrüger. Gustav Radbruch hat es in seiner Feuerbach- Biographie immerhin schon zu drei offenen Optionen gebracht: Prinz, Schwindler, Hysteriker? Trotz der strengen Aufforderung von Pies, sich für oder gegen Hauser zu entscheiden, hat Radbruch das feurige Engagement des großen Juristen für den Findling und die Prinzentheorie, die Feuerbach als moralische Wahrheit eigentlich erfunden hat, doch lieber mit dessen schwärmerischem Rousseauismus in Verbindung gebracht. In Radbruchs Buch von 1934 erfahren wir dann auch, daß die badische Prinzessin, spätere Königinwitwe von Bayern, die Idee des Thronfolgerraubs in Baden für absurd gehalten hat. Und auch die „Mutter“ von Kaspar Hauser, Stéphanie Beauharnais, Großherzogin von Baden – sie starb erst 1860 – gehört zu den Ungläubigen. Sie waren beide am Tatort und sind wichtige Zeugen. Darf man ihre Reaktionen als „positivistischen Faktenschrott“ der höheren moralischen Wahrheit zuliebe heutigen Lesern vorenthalten, wenn man Feuerbachs Denkvorschriften wieder vorlegt?

Feuerbachs Leidenschaft für Hauser war gespalten: Auf der einen Seite interessierte den Juristen und Kriminalisten die Frage, wer Hauser war und wer ihn mißbraucht hatte. Auf der anderen begeisterte ihn die Unschuld des adamitischen Menschen, der mit 16, 17 Jahren plötzlich in die Welt trat. Kaspar Hauser war nicht nur Opfer, sondern auch der Mensch im Naturzustand. Der Philosoph Daumer, in dessen Haushalt Kaspar eine Weile lebte, stellte Beobachtungen an ihm an, führte wissenschaftliche Experimente an ihm durch, natürlich immer gemäß den Prämissen, welche die dem Übersinnlichen zugeneigte romantische Naturphilosophie ihm vorgab. Seine Notate zeigen genau, wie der Findling, eine Leerstelle, in der Interaktion mit den Träumen, Phantasien und Erwartungen seiner Umgebung Schritt für Schritt zu dem wurde, für sich und andere, was bis heute als der Mythos vom Kaspar Hauser fortlebt. Es ist ein nachaufklärerischer, moderner Mythos, den die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Methoden – Vernunft, Pädagogik, Forschung – so sicher erzeugt wie jede andere. Am Anfang ist Hauser, so zeigen es die Quellen, ganz der Mensch, den die Zivilisation noch nicht hat verbiegen und verfälschen können. Ihm genügen Brot und Wasser, wo andere schon Fleisch, dicke Suppen, Bier und Schokolade genießen müssen. Mit Staunen werden seine kindlich-naiven und gerade deshalb so erhebenden moralischen Urteile aufgenommen. Wie redlich und unschuldig ist der Mensch, ehe ihn die Konvention verfälscht! Diese heilige Begeisterung wurde noch vermehrt und gesteigert durch seine großartigen Lernfortschritte in der ersten Zeit, welche fast auf ein Genie hoffen ließen. Je länger, je weniger konnte Hauser diesen Phantasien genügen. Nun erst tritt Hauser als Opfer eines Verbrechens in den Vordergrund, und dessen nähere Umstände werden ganz genauso interaktiv konstruiert wie der adamitische Mensch vorher. Hier einfach von Suggestion und pfiffigem Betrug zu reden wird dem mythenbildenden Prozeß nicht gerecht. Das Verbrechen am Seelenleben dachte man sich damals, in der Zeit der Restauration, des vielfältigen Bruchs fürstlicher Versprechen auf Verfassungen und konstitutionelle Regierungen, als eines, das allerhöchste Kreise begangen hatten: Hauser mußte ein Prinz sein, der rechtmäßige badische Regent, der dem Volk vorenthalten wurde. Das dritte Dokument des Bandes, aus der Feder eines Feuerbach- Nachkommen, belegt, mit welcher Wucht der politische Konflikt des 19. Jahrhunderts auf das Seelen

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und Geistesleben im Einzelfall durchschlagen konnte. Der Mann sucht mit grüblerischer Intensität nachzuweisen, daß viele männliche Nachkommen Feuerbachs eines unnatürlichen Todes gestorben seien – vergiftet. Hier winkt von Ferne schon der gut abgekapselte Wahn, der sich mit manischem Scharfsinn der Fakten annimmt und doch nie zum klaren Ziel kommt; ein Zug, der bei allen Hauserianern und Anti-Hauserianern (diese sind allerdings schon im vergangenen Jahrhundert ausgestorben) imponiert.

Heute, in demokratischen Zeiten, kommen als Verbrecher am Seelenleben Fürstenhäuser nicht mehr in Betracht. Die Anregung zur Publikation der vorliegenden Hauseriana hat Jeffrey M. Masson gegeben, bekanntgeworden durch die Wiedereinführung der Verführungstheorie, die Freud schließlich verworfen hatte, in die psychoanalytische Neurosentherapie. Mit der Aufgabe der Triebtheorie, der Phantasietätigkeit und der Verdrängung wäre aber auch die Psychoanalyse aufgehoben. Was nach Masson bleibt, ist eine grobe Fassung der Verdrängung als bloßes Vergessen, was der Therapeut im Glauben an den endemischen Seelenmord (sexueller Mißbrauch) rückgängig machen kann. Hausers Popularität erklärt sich Masson, wenig plausibel, mit der Projektion von Tätern und Opfern, die wissen, was geschehen ist, es sich aber nicht zu sagen getrauen und also Hauser vorschieben müssen. Einleuchtender ist der Vorschlag des niederländischen Literaturwissenschaftlers Walter Schönau (nicht abgedruckt), den Mythos mit dem „Familienroman“ (Verwerfung der realen Eltern oder eines Elternteils zugunsten „höherer“ Personen) und vorödipalen Verlassenheitsängsten in seiner Quicklebendigkeit zu erklären. Für Masson ist heute der Vater der böse Fürst, dem der Sohn trotzig zuruft, in Abwandlung der absolutistischen Königsmaxime, „Kaspar Hauser, c'est moi!“ Jeder ein mißbrauchter, um seine Herrschaftsrechte gebrachter Prinz oder eine Prinzessin? Die Leugnung der Phantasietätigkeit scheint die Phantasie sehr zu befördern.

Georg Friedrich Daumer / Anselm Feuerbach: „Kaspar Hauser“. Mit einem Bericht von Johannes Mayer und einem Essay von Jeffrey M. Masson. Die andere Bibliothek. Eichborn Verlag, 340 Seiten, geb., 48 DM

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