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"Rot-Grün ist noch möglich"

■ Die Meinungsforscher haben aus ihrem Debakel von 1989 gelernt und warnen davor, die Wahl schon für entschieden zu halten: "Berlin ist ein besonderes Pflaster"

Knapp zwei Wochen vor dem Urnengang, schrieb die taz im Januar 1989, habe Eberhard Diepgen die Wahl schon gewonnen. Die SPD halte ihren Kandidaten Walter Momper „zu Recht für nicht präsentabel“. Die Umfrage-Ergebnisse sprachen eine deutliche Sprache: CDU und FDP kamen auf 52, Rot-Grün dagegen nur auf magere 44 Prozent. Entsprechend groß war die Überraschung am Wahlabend. Die CDU wurde von den „Republikanern“ gebeutelt, ihr Koalitionspartner FDP verfehlte gar den Einzug ins Parlament. 49 Prozent der Stimmen reichten für den ersten rot-grünen Senat.

Auch diesmal scheint die Wahl schon entschieden. Die jüngste infas-Umfrage, am 1. Oktober abgeschlossen und vergangenen Freitag veröffentlicht, sieht die SPD bei 26 Prozent. Doch haben die Demoskopen dazugelernt. Sie warnen davor, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu überschätzen. „Die Befragung erhebt nicht den Anspruch, eine Prognose zu sein“, relativiert infas-Meinungsforscher Hans-Jürgen Hoffmann die Aussage seines „Stimmungsbarometers“. Eine Vorhersage des Wahlergebnisses sei erst am Wahltag möglich.

Auch Matthias Jung von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen will „nicht ausschließen, daß Rot-Grün noch möglich ist“. Für eine parlamentarische Mehrheit, so rechnet er vor, reichen möglicherweise schon 46 Prozent der Stimmen. Umfragen hätten aber bei weniger als 1.000 Befragten eine Toleranzbreite von etwa 5 Prozent. Daher könnten sich hinter den ermittelten 39 Prozent rot- grüner Stimmen auch 44 Prozent verbergen. Um die fehlenden 2 Prozent könnten sich die Anteile durchaus noch verschieben. Gerade die ungewohnt ausführliche Thematisierung der vermeintlich sicheren Wahlniederlage könne auch einen Mobilisierungseffekt auf die SPD-Wähler ausüben.

Umgekehrt könnten viele CDU-Sympathisanten am Wahltag zu Hause bleiben, wenn eine rot-grüne Koalition ohnehin als ausgeschlossen gelte. Dieser Effekt wird dadurch noch verstärkt, daß die bei Umfragen ermittelte Wahlbeteiligung immer weit über der Quote am Wahltag liegt. Ob die CDU die „hohe passive Zufriedenheit“ in der Bevölkerung, von der sie bei den Umfragen profitiert, auch in Stimmen umsetzen kann, erscheint mithin fraglich. Gerade bei einem Wahlkampf, der so wenig polarisiert wie derzeit in Berlin, könne die Wahlenthaltung noch für Überraschungen sorgen.

Die drei Demoskopie-Institute, die derzeit die Berliner Presse mit Daten beliefern, halten den Einfluß von Meinungsumfragen auf Wahlentscheidungen aber für gering. Ob der Zustand der SPD bei ihren Wählern Mitleid oder Apathie auslöst, scheint für Hoffmann ebensowenig ausgemacht wie die Frage, ob die Siegesgewißheit der CDU schadet oder einen Mitläufer-Effekt auslöst.

„Die Menschen treffen ihre Entscheidung nicht nach Koalitionen, sondern nach ihren Präferenzen für eine bestimmte Partei“, hat Manfred Güllner (Forsa) festgestellt. Weil die Milieubindung stark abgenommen habe, könnten auch Ereignisse in den Tagen vor der Wahl das Ergebnis stark beeinflussen, zumal sich bei der letzten Forsa-Umfrage noch 27 Prozent der Befragten unentschieden zeigten. Hinzu kommt, daß viele Sympathisanten von CDU und SPD nicht ausschließen, ihre Meinung bis zum Wahltag noch zu ändern. Güllner äußerte auch Zweifel an der Qualität der infas-Umfrage. Jede Woche exakt 678 Personen zu befragen, wie von infas behauptet wird, sei praktisch nicht durchführbar.

Daß seine Zunft 1989 vom Wahlergebnis überrascht worden sei, ist für ihn ein „merkwürdiges Märchen“. Forsa habe Diepgens Niederlage prognostiziert, Politiker und Journalisten hätten die Zahlen bloß verdrängt. Dabei verdrängt Güllner selbst zumindest die Umfragen seiner Kollegen. Infas jedenfalls sagte noch zwei Wochen vor dem Urnengang einen klaren CDU/FDP- Sieg voraus.

Von allen Instituten bewertet Infratest Burke die Chancen für Rot- Grün am schlechtesten. Schon bei der letzten Umfrage seines Instituts Mitte September, so Richard Hilmer, seien die 31 Prozent SPD-Wähler „eher wackeliger“ gewesen als die 35 Prozent für die CDU.

Überraschungen schließt aber auch er nicht aus. „Berlin ist ein eigenes Pflaster“, folgert er aus den beiden letzten Berlin-Wahlen und sieht darin einen Trend, „daß man den Regierenden eins auswischt“. Was das bei einer Großen Koalition heißen könnte, vermag aber auch Hilmer nicht zu sagen. Ralph Bollmann

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