: Den Teufel gibt's nur wegen des Kontrasts
Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit als staatlicher Nichteinmischung und als Selbstbestimmung: 1969 erstmals erschienen, liegen Isaiah Berlins Essays „Freiheit. Vier Versuche“ erstmals in deutscher Übersetzung vor ■ Von Friedrich Balke
Isaiah Berlin ist dem Publikum als ein fulminanter Ideenhistoriker bekannt. Nun ist das Metier des Ideenhistorikers nicht erst in der letzten Zeit ein wenig in Mißkredit geraten. Die Leser Robert Musils werden sich an jenen rührigen General Stumm von Bordwehr erinnern, der bei seinem Versuch, das „Grundbuchsblatt der modernen Kultur“ zu erstellen, erkennen muß, daß der „mitteleuropäische Ideenvorrat“ nicht nur aus lauter Gegensätzen besteht, sondern daß diese Gegensätze „bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen“.
So ist es denn auch kein Wunder, daß im Zentrum der „Four Essays on Liberty“, die zuerst 1969 erschienen sind und jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, eine systematische und historisch folgenschwere „Begriffsverwirrung“ steht, die das Wort „Freiheit“ betrifft und die der Ideenhistoriker richtigzustellen beansprucht.
Nun verdienen die „Four Essays“ vor allem deshalb unsere Beachtung, weil Berlin in ihnen eine zeitdiagnostisch gesättigte These vertritt, die keineswegs allein die Idee der Freiheit und die historischen Abenteuer, in die sie verstrickt war, sondern den Stellenwert politischer Ideen im 20. Jahrhundert überhaupt betrifft. Während Beobachter wie Musil für ihre Gegenwart im Hinblick auf die ,ideologische Situation‘ das Bild vom „Zeitmagen“ bemühen, der „in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen aufstößt“ und eine allgemeine kulturelle „Vielspältigkeit“ feststellen, diagnostiziert Berlin eine gegenläufige Entwicklung, die im 20. Jahrhundert vielerorts zu einer Art Entmachtung der Ideen und der Sphäre des Geistes insgesamt geführt haben soll: „In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Ideen, während unsere Zeit nicht so sehr durch den Kampf zwischen verschiedenen Ideensystemen als vielmehr durch eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber Ideen schlechthin charakterisiert wird.“
Feindschaft gegen die Ideen
Nun ist allerdings auch die Feindschaft gegen die Ideen die späte Frucht einer – Idee, nämlich jener positivistisch-technokratischen Utopie, die dazu aufruft, sich endlich den Tatsachen zuzuwenden, um Streit und Diskussion beenden zu können und tatkräftig die „Organisation der Revolution“ (Auguste Comte) voranzubringen. Für Berlin drückt sich das Pathos dieser technokratischen Utopie exemplarisch in der Prophezeiung Saint-Simons aus: „An die Stelle der Herrschaft über Menschen tritt die Verwaltung von Sachen.“ Das heißt aber in der Konsequenz: die politische Behandlung der Menschen als Sachen. Den Erfolg der totalitären Herrschaftspraktiken in diesem Jahrhundert erklärt Berlin daher mit der Anwendung einer Art gesellschaftsweiter Gehirnwäsche, einer „Politik der bewußten psychologischen Konditionierung“, die darauf hinauslaufe, „den geistigen Habitus umzumodeln“. Berlin attestiert der Methode, die hinter dieser schwarzen Utopie steht, durchaus „etwas Geniales“: „Zum erstenmal tauchte der Gedanke auf, die wirksame Methode im Umgang mit Fragen, vor allem mit jenen immer wiederkehrenden Problemen, von denen originelle, aufrichtige Köpfe zu allen Zeiten irritiert und oft gequält worden waren, sei nicht die Anwendung der Werkzeuge der Vernunft, geschweige denn so geheimnisvoller Fähigkeiten wie ,Einsicht‘ oder ,Intuition‘ – am wirksamsten sei vielmehr die Beseitigung der Fragen selbst.“ Gesellschaftliche Hyperstabilität durch psychologische Gleichschaltung.
Berlin verweist auf Huxley und Orwell, und man hat überhaupt den Eindruck, daß seine 1949, zu Beginn des Kalten Krieges formulierte Diagnose das Resultat einer Exegese dieser literarischen Entwürfe totaler Herrschaft ist, die sich als Herrschaft selbst unkenntlich gemacht hat. Weil Berlin die Geschichte lieber vor der Folie literarischer Szenarien interpretiert – „Hier haben wir es nun tatsächlich mit Dostojewskis utilitaristischem Alptraum zu tun“ –, verzichtet er auf die Analyse des Beitrags politischer Ideen zur historischen Konstruktion totalitärer Regime, die vor allem auch die Veränderung des ,kulturellen Haushaltes‘, in dem sie zirkulieren, berücksichtigen müßte. Der pauschale Hinweis auf die Bedeutung politischer Mythen in diesem Prozeß befriedigt schon deshalb nicht, weil auch nicht-totalitär verfaßte Staaten regen Gebrauch von ihnen machen.
Störpotentiale liberaler Kulturen
Auch wenn man 1949 noch nicht ahnen konnte, was 1989 passieren würde, die Vorstellung des großen Diktators als des perfekten Manipulators trug bereits damals allzusehr dem politischen Selbstverständnis dieser Regime Rechnung. Die präsentierten sich nach außen hin als monolithische Blöcke, als Ausdruck einer ,völkischen‘ oder ,proletarischen‘ Homogenität, obwohl sie gleichzeitig gigantische Sicherheitsapparate in Bewegung setzen mußten, um die Kräfte der Differenz und Dissidenz zu blockieren. Auch von den Gesellschaften, wie totalitär sie politisch auch immer verfaßt sein mögen, gilt nämlich das abgewandelte Wort Nietzsches: Sie lassen sich nicht feststellen, man möchte fast sagen: ontologisch nicht. Immer fließt oder flüchtet etwas, das gilt jedenfalls von der kleinen Politik, der Mikropolitik des Alltags, und zwar auch dann, wenn auf der Ebene der Makropolitik, dort, wo die Entscheidungen getroffen werden und sich das Zeremoniell der Souveräne entfaltet, alles vereist ist. Kein Geringerer als Platon, der am Ende, wie man weiß, von den „Freunden der Ideen“, also auch von sich selbst, zunehmend ironisch sprach, warnt davor, die Einheit mit der Eins zu verwechseln.
Es mag daher sein, wie Berlin schreibt, daß die Methode der Nachfahren des Dostojewskischen Großinquisitors „Übereinstimmung in politischen Grundsatzfragen“ gewährleistet, weil eine solche Übereinstimmung durch den Einsatz von politischen Sprachregelungen und öffentlichen Redeverboten in allen Staaten leicht herstellbar ist; aber diese Form der Ideologieplanung beseitigt mitnichten, wie Berlin glaubt, die „psychologischen Möglichkeiten von Alternativen“, weil sie diese Beseitigung nämlich gar nicht voraussetzt. Ihre eigentliche Kraft entfalten die Ideen nämlich diesseits der Schwelle „politischer Grundsatzfragen“ und Grundsatzpapiere, die man auch in liberalen Gesellschaften getrost den Parteigremien und den Medien überlassen kann. Nämlich dort, wo sie als Träger ,abseitiger‘ Begehren und Überzeugungen fungieren, die ein politisches System auf dem Wege kleinster, zunächst ganz unscheinbarer Abweichungen zu destabilisieren vermögen und es daran hindern, daß es sich vollständig abschließt: „Kein System ist so homogen, daß es nicht an irgendeinem Punkt nachgäbe.“ (Paul Valéry)
Wo öffentliche Debatten und Diskussionen verboten sind, mag es sinnvoll, ja sogar unabdingbar sein, in der bloßen Existenz liberaler Kommunikationsverhältnisse ein Zeichen für die Kraft der Ideen zu sehen. Aber wie ist es mit den Ideen, ihrem Störpotential und Eigensinn in einer liberalen Kultur bestellt, in der, einem anderen Wort Valérys zufolge, der „Austausch antinomischer Sätze zu einer Dauereinrichtung geworden ist“? Wie, mit anderen Worten, ist dem Pluralismus, dem Berlin zu Recht so huldigt, wieder ein Pathos abzugewinnen, nachdem er zur allgemeinen Geschäftsgrundlage geworden ist und mittlerweile nicht nur bei Philosophen einen etwas selbstironischen Zug angenommen hat?
Positive und negative Freiheit
Ganz einfach, könnte man sagen: Dadurch, daß man, nachdem die alten Feinde der offenen Gesellschaft besiegt bzw. entfallen sind, auf ihre neuen Feinde hinweist, an denen ja, global gesehen, weiß Gott kein Mangel herrscht. Einer solchen, ein wenig selbstzufriedenen Argumentation wäre freilich zu entgegnen, was man auch gegen die Berlinschen Essays vorbringen muß: „Auch der Teufel ist nur des Kontrastes wegen da, damit wir begreifen sollen, daß am Himmel doch eigentlich etwas sei.“ Dieser Satz, den Georg Büchner seiner Figur Leonce in den Mund legt, formuliert unübertroffen den Haupteinwand gegen die Unterscheidung, mit der Berlin den Freiheitsbegriff aufspaltet. Die Unterscheidung ist nicht neu, sie ist nicht etwa Berlins Erfindung: Dem Begriff der negativen Freiheit im Sinne einer „Freiheit als Nichteinmischung“, als (staatlich garantierte) Zusicherung eines Bereichs, „in dem ich ungehindert agieren kann“, steht der Begriff der positiven Freiheit gegenüber, die sich aus dem „Wunsch des Individuums“ ableitet, so Berlin, „sein eigener Herr zu sein“.
Die „Freiheit als Selbstbestimmung“ ist nun unweigerlich mit einer Abstraktionsbewegung verbunden, die politisch unheilvolle Konsequenzen haben kann: Anders als im Fall der negativen Freiheit ist es nämlich nicht das empirisch jeweils anders bestimmte Selbst, sondern ein inhaltlich in bestimmter Weise qualifiziertes, ,ideales‘ Selbst, das Subjekt des positiven Freiheitsbegriffs ist. Dieser lebt von einer polemischen Spannung – und genau das macht ihn politisierbar: Er ist untrennbar verbunden mit einer Wendung gegen Zustände und/oder Personen, die meine Unfreiheit verschulden oder denen sie zugerechnet wird. Nicht: Wie groß ist mein Spielraum zu freiem, d.h. unkontrolliertem Handeln (gleichgültig, wer ihn festlegt), sondern von wem soll mein Handeln kontrolliert werden (gleichgültig, wie intensiv die Kontrolle erfolgt), und muß ich nicht an dieser Kontrolle notwendig beteiligt werden, ist die Grundfrage, die sich auf dem Boden des positiven Freiheitsbegriffs erhebt.
Deshalb kann Berlin mit einer Rigorosität, die sich sonst nur noch bei Carl Schmitt findet, formulieren: „Aber zwischen individueller Freiheit und demokratischer Herrschaft besteht kein notwendiger Zusammenhang.“ Es gibt eine totalitäre Logik der Demokratie, die man schon daran ablesen kann, daß keines der totalitären Regime in diesem Jahrhundert auf den Anspruch verzichten wollte, das wahre Volk zu vertreten. Wenn wir also Berlin zustimmen können, daß das 20. Jahrhundert die furchtbare Dialektik des ,positiven‘ Freiheitsbegriffs offenbart hat, nämlich in Gestalt der totalitären Exzesse einer rechtsstaatlich ungebremsten, ,reinen‘ Demokratie, müssen wir dann heute, am Ende des totalitären Zeitalters, nicht auch die Ohnmacht des negativen Freiheitsbegriffs bedenken, der sich als weithin ungeeignet erwiesen hat, den totalitären Gefahren, die sich in den zwanziger Jahren abzeichneten, ein politisch wirksames Pathos entgegenzusetzen?
Berlin selbst betont die Exklusivität des negativen Freiheitsbegriffs, der, wie es heißt, „nur selten zu einer Parole bei den Volksmassen geworden ist“. Warum eigentlich nicht? Weil, anthropologisch gesprochen, den Massen das Sensorium für die Wonnen des negativen Freiheitsbegriffs fehlte? Oder nicht vielleicht deshalb, weil diesem Freiheitsbegriff selbst etwas fehlt, auf das es aber in politics gerade ankommt? Von Mazzini stammt das auf die negative Freiheit gemünzte Wort: „Die Freiheit konstituiert nichts.“ Vielmehr modifiziert und temperiert sie einen bestehenden politischen Zustand, den sie aber voraussetzen muß.
Daß ein solcher negativer Freiheitsberiff in dem Augenblick, wo es darauf ankommt, daß er eine politische Wirksamkeit (und zwar nicht nur in Verfassungstexten) entfaltet, versagt, hat Hannah Arendt dazu bewogen, auf der Freiheit als einer Kategorie der Konstitution bzw. der „Gründung“ zu beharren. Ein solcher Freiheitsbegriff, der der Unterscheidung von negativ und positiv vorausliegt, steht und fällt mit der Möglichkeit, eine Konstitution ohne konstituierendes Subjekt (Staat, Nation, Klasse, Rasse etc.), nämlich als ein differentielles Geschehen zu denken. Statt die Möglichkeit zu radikal eigensinnigem, ,anarchischen‘ Verhalten oder wie Berlin formuliert: zu „ziellosem, ,unbefugten‘ Streben“ in eine vermeintlich unpolitische Privatsphäre abzudrängen, müßte sie in jene ,molekularen‘, der Institutionenebene vorausliegenden Prozesse einfließen, in denen das Politische fortwährend produziert und reproduziert wird. Statt einer Abspaltung des negativen vom positiven Freiheitsbegriff das Wort zu reden, statt, wie es Berlin tut, das Himmlische auf dem Wege einer Exstirpation des Teuflischen zu gewinnen, kommt heute alles auf die Erfindung eines dritten Freiheitsbegriffs an, der der Diskreditierung des positiven und der Aushöhlung des negativen Freiheitsbegriffs Rechnung trägt.
Isaiah Berlin: „Freiheit. Vier Versuche“. Fischer Verlag 1995. 336 Seiten, geb., 42 DM
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