: Das Ende der Ära Tansu Çiller in Ankara
■ Die türkische Ministerpräsidentin ist gescheitert. Die ParlamentarierInnen lehnten gestern ihre Minderheitsregierung ab. Ein Nachfolger steht schon bereit
Istanbul (taz) – Herbe Niederlage für Tansu Çiller: Mit 230 zu 191 Stimmen votierten gestern die türkischen ParlamentarierInnen gegen die von der Ministerpräsidentin gebildete Minderheitsregierung. In Ankara wird damit gerechnet, daß Staatspräsident Süleyman Demirel einen anderen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragt.
Ursprünglich hatten die faschistische „Nationalistische Aktionspartei“ (MHP) und die „Partei der Demokratischen Linken“ unter dem Ex-Premier Bülent Ecevit angekündigt, die Minderheitenregierung zu unterstützen. Doch Ecevit hatte die Bedingung gestellt, daß ein Tarifvertrag zwischen der Regierung und den streikenden ArbeiterInnen im öffentlichen Sektor abgeschlossen wird. Die Tarifverhandlungen zwischen der Regierung und der Gewerkschaftskonföderation Türk-Iș, die 680.000 Beschäftigte in staatlichen Betrieben vertritt, wurden jedoch abgebrochen. Türk-Iș Vorsitzender Bayram Meral titulierte Çiller, die Lohnerhöhungen unter dem Inflationsniveau zugestehen will, als eine „Arbeiterfeindin“. Çiller hatte gesagt: „Ich bin nicht bereit, für das Vertrauensvotum dieses Geld auszugeben. Sonst gefährde ich die Zukunft des Landes.“
Als Çiller eine halbe Stunde vor dem Vertrauensvotum erfolglos versuchte, den Gewerkschaftsvorsitzenden Meral zu treffen, war es bereits zu spät. Auf den Straßen der Hauptstadt demonstrierten Hunderttausende ArbeiterInnen. Vereinzelt kam es zu Übergriffen der Polizei auf die ArbeiterInnen und auf Kamerateams. Busse, die ArbeiterInnen in die Hauptstadt brachten, wurden an Polizeibarrikaden festgehalten. Ecevits „Partei der Demokratischen Linken“ votierte mit Nein ebenso wie mehrere Abgeordnete von Çillers „Partei des rechten Weges“.
Mehrere Abgeordnete der „Partei des rechten Weges“ waren vor dem Vertrauensvotum aus der Partei ausgetreten. Die parteiinterne Opposition gegen Çiller hatte sich ebenfalls bei der Verlesung des neuen Regierungsprogramms im Parlament offenbahrt: Von 181 Abgeordneten der Regierungspartei waren etwa achtzig nicht im Sitzungssaal erschienen.
Nach dem Scheitern der Regierung sind Neuwahlen unumgänglich. Çiller-Kritiker in der „Partei des rechten Weges“ – unter ihnen der ehemalige Parlamentspräsident Hüsamettin Cindoruk, der wegen der Weigerung, Çillers Neuwahlen zuzustimmen, sein Amt niederlegte – fordern eine „Regierung des nationalen Konsenses“, an der alle großen Parteien beteiligt werden. Diese Regierung müsse die Zollunion mit der Europäischen Union unter Dach und Fach bringen, und dann den Weg für Neuwahlen freimachen. Als Ministerpräsident einer solchen Regierung käme Cindoruk in Frage. Ömer Erzeren
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