: „Wir sind nur kleine Leutchen“
■ Trotzdem können auch Ältere Paroli bieten: die Notbremse ziehen oder randalierende Jugendliche anquatschen, rät BerlinerPolizist
“Was machen Sie, wenn eine Gruppe Jugendlicher auf der Straße randaliert?“ Die dreizehn Grauköpfe, die sich im Rahmen der Bremer Seniorentage am Freitag über Selbstschutz und Sicherheit informieren wollten, schweigen. Doch der Berliner Kriminalbeamte Reinhard Kautz will's wirklich wissen. „Sie sehen so aus, als würden Sie sich nicht raushalten“, provoziert er eine Zuhörerin. Die Dame fährt prompt hoch: „Aber sicher werd' ich machen, daß ich wegkomme. Ich bin doch nicht blöd und will im Krankenhaus landen.“ Die anderen nicken. So gehen sie dem Kripo-Mann Reinhard Kautz im Bürgerzentrum Neue Vahr in die Falle.
„Ich appelliere, sich diesem Rückzug nicht anzuschließen“, hebt Kautz die Stimme. Er hat eine Karriere als polizeilicher Public-Relations-Mann hinter sich. Das Gewährenlassen, wie es seit den 70er Jahren allenthalben praktiziert wurde, lehnt er ab. „Ein großes Mißverständnis von Toleranz“. Man dürfe nicht länger wegschauen oder nur nach der Polizei rufen. JedeR müsse selbst für Sicherheit sorgen.
Da erntet der muskulöse Kriminale in der schwarzen Lederweste jedoch spontanen Widerspruch. „Verwechseln Sie uns nicht. Wir sind hier nur kleine Leutchen“, wendet ein pensionierter Elternsprecher ein. Der Kripomann nickt. Mit kleinen Leutchen, mit potentiellen Opfern, hat er fast täglich zu tun, seit er 1991 ein Deeskalationskonzept für den Umgang mit gewaltbereiten Jugendlichen ersann. Damals betrat er deutsches Neuland. Heute blickt er zurück: „Nach einer Reihe von Überfällen in Berliner S- und U-Bahnen hatten die Medien ein echtes Jugendfeindbild aufgebaut. Dabei kommt das alles von den Erwachsenen.“
Alles – das sind die Agressionen der TäterInnen, aber das sind ebenso die autoritären und gewaltätigen Antworten der Umwelt darauf. „Wir haben doch gar nicht gelernt, friedvoll zu intervenieren. Die meisten Menschen schreien doch gleich los und wollen verbieten“, sagt Kautz. Kein Widerspruch regt sich – obwohl eben noch zwei ZuhörerInnen „Arbeitslager für Jugendliche, die nichts zu tun haben“, forderten.
Kautz durchschaut TäterInnen. „Die wollen auch kommunizieren.“ Gerade eben, an der Berliner Freiheit, hätten ein paar Jungs den PassantInnen den Weg versperrt, berichtet er. „Die machten den großen Max. Da bin ich hin. Hab' gesagt, Mensch, ick komm' ja aus Berlin, bin ja was jewöhnt. Aber echt, Wege versperr'n, sowas machense bei uns nich'. Überhaupt, warum schreist'n so?“, habe er den einen gefragt. Der sei ganz platt gewesen – und das Wegeversperren vergessen. „Übrigens lassen sich 95 Prozent aller Täter durch Intervention von der Tat abbringen. Man muß Hemmschwellen setzen.“ Die übrigen fünf Prozent der Täter sind nach Kautz „für unsere Gesellschaft verloren“.
Der Kripomann wird wieder direkt. „Was meinen Sie, passiert Ihnen, wenn Sie solche Jungs ansprechen?“, fragt er eine Zuhörerin. Die denkt lange schwer nach. „Nichts“, sagt sie schließlich. „Eben“, grinst der Kriminale. Höchstens eine dreckige Antwort habe sie zu befürchten, das gehöre zur „Gesichtswahrung“ der Jugendlichen – wie das „Hemmschwellen setzen“ zur Aufgabe der Alten.
Die SeniorInnen schauen ungläubig. Intervenieren? Dabei wollen sie doch nur mit der Handtasche friedlich durch die Welt spazieren. Oder in der Straßenbahn fahren. Linie 10 beispielsweise. Ostertorviertel. Im Hänger wird geraucht und randaliert. „Da kann ich doch nichts machen“, sagt der pensionierte Elternsprecher. Die Antwort verdutzt nicht nur ihn: „Sie könnten doch die Notbremse ziehen.“
Allgemeines Köpfeschütteln: „Widerrechtliches Ziehen ist doch verboten.“ Ein paar Paragraphen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch überzeugen dann doch. Man darf: „Eigentlich müßte auf der Notbremse stehen: Bei Gefahr ziehen“, resümiert Kautz.
Kautz weiß: „Man hat Angst, sich alleine zu profilieren.“ Dabei schwört er: „Wenn nur ein Mensch interveniert, machen andere mit. Sie könnten jemanden anders auch direkt ansprechen.“ Die Voraussetzung für Zivilcourage sei, Peinlichkeit zu überwinden.
Mit Peinlichkeit hat sogar der Handtaschenraub zu tun: „Sie glauben nicht, wieviele Diebstähle verschwiegen werden, weil Betroffene sich genieren.“ Die neun Frauen im Raum haben da keine praktischen Kenntnisse. Theoretische wohl, sie halten sich fälschlicherweise für die Opfer Nummer eins. Kautz klärt auf: Nicht alte Damen sind die häufigsten Opfer von Kriminalität, sondern Männer bis 24 Jahre. Natürlich weiß er auch, daß die Seniorinnen selten ausgehen – damit nichts passiert..
Falls aber doch etwas geschieht – 1994 weist die Bremer Polizeistatistik 400 Straftaten gegen Personen über 60 Jahre aus, knapp ein Viertel davon waren Handtaschendiebstähle – gilt die Regel: „Anzeigen, anzeigen, anzeigen, selbst, wenn die Handtasche verloren ist.“ Die Polizei müsse doch wissen, wo sich derartige Vorfälle häufen, argumentiert Kautz und rät, Wertsachen am Körper zu tragen. Vorbeugen sei besser als zaghaftes Schreien. Eher helfe da schon die transportable Taschensirene.
„Man muß angemessenes Verhalten regelrecht trainieren“, bestätigt Kautz. Einfach sei es nie, in einer bedrohlichen Situation ein entkrampfendes Gespräch zu beginnen. Oder den Nachbarn anzurufen. Überhaupt andere um Hilfe zu bitten. „Aber mehr Mitmenschlichkeit ist die beste Prävention.“
Eva Rhode
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