„Niemand bringt uns hier weg“

Mit dem Waffenstillstand kommen die ersten UN-Konvois. Die Menschen von Goražde sind froh über Mehl und Reis und hoffen auf das Ende der Isolation  ■ Aus Goražde Erich Rathfelder

Als der Konvoi sich vor der US-amerikanischen Botschaft in Bewegung setzt, ist es noch nicht sicher, ob er sein Ziel Goražde auch erreichen wird. Doch John Menzies, der US-Botschafter in Bosnien-Herzegowina, will selbst nachprüfen, ob die Straße von Sarajevo in die Enklave ungehindert befahren werden kann. Und so selbstbewußt, wie der Amerikaner auftritt, geben sich auch die französischen UNO-Soldaten, die in ihren gepanzerten Fahrzeugen den Konvoi schützen sollen.

Der Konvoi verläßt das bosnisch kontrollierte Gebiet. Mit lässigen Handbewegungen winken die serbischen Posten die Fahrzeuge durch die Schranken des Kontrollpunktes. In zügiger Fahrt entlang den steil aufragenden Felsen des Miljacka-Tales wird bald die Abzweigung zur Serbenhochburg Pale erreicht. Die Straße nach Goražde jedoch führt über einen Paß in Richtung Rogatica. Nebelverhangen breitet sich die Landschaft aus, eine Pferdeherde grast auf weiten Wiesenflächen, Bauern arbeiten auf den Feldern, Kinder eilen zur Schule. In Abständen von einigen Kilometern sind französische UNO-Soldaten in Position gegangen. Ihre schwere Bewaffnung macht deutlich, daß bei Zwischenfällen mit ihrer Reaktion zu rechnen ist.

Die Spuren des Krieges mehren sich, je näher Goražde rückt. Von manchen Dörfern sind nur noch Ruinen übrig. Die ehemals von Muslimen bewohnten Häuser wurden 1992 niedergebrannt und dann von den Pale-Serben als Steinbruch benutzt. Am letzten Kontrollpunkt, der schon am Drina- Fluß gelegen ist, blicken die serbischen Posten feindselig drein. Doch sie rühren sich nicht. Nach ein paar Kurven weitet sich das Tal. Jetzt ist die Stadt Goražde deutlich zu erkennen.

Scharen von Kindern stürzen sich als erste auf die Besucher. Ein Mann, der am Fluß Gras geschnitten hat, lacht. Und langsam treten ausgemergelte Gestalten aus der Deckung der Ruinen. Hier, am Eingang der Stadt, kaum 500 Meter von den serbischen Stellungen entfernt, wurde heftig gekämpft. Auch im Zentrum sind die Spuren des Krieges allgegenwärtig. Ein älterer Mann weist auf die kahlen Hügel, welche die Stadt umgeben. „Von dort haben sie uns seit dem 4. Mai 1992 immer wieder mit Granaten und durch Scharfschützen beschossen.“

Goražde ist eine kleine Stadt. Vor dem Krieg wurde der Flecken von 15.000 Menschen bewohnt, ein bißchen Metallindustrie war angesiedelt, es gab ein Hospital, weiterführende Schulen für die Kinder der umliegenden Dörfer. An beiden Seiten des Flusses gelegen werden die Stadthälften durch eine Straßenbrücke miteinander verbunden. Sie hat nichts von der Grazie der flußabwärts gelegenen berühmten Brücke von Visegrad, sie ist ein Zweckbau, auf der die Fahrzeuge von Bosnien an die Küste gelangen sollten. „Dubrovnik“ heißt es auf dem Straßenschild.

Die Menschen lieben ihre Stadt, immer noch. „Hier werde ich bleiben, hier werde ich nur tot herausgetragen. Es war früher so friedlich und schön hier.“ Safet Garcecević bezeichnet sich selbst als Filmemacher, Dichter und Komponist. Stolz ist er auf sein Goražde-Lied und die Filmaufnahmen, die er während des Krieges mit seiner Kamera aufgenommen hat. Der „schwarze Sigi“, wie er während seines siebenjährigen Aufenthalts als Krankenpfleger in Wien genannt wurde, kämpft mit den Tränen. „Daß nach all den Jahren wieder Menschen von auswärts kommen, ist wunderbar.“ Vielleicht wende sich doch noch alles zum Guten, sagt der dunkelhaarige Mann. „Wir mußten kämpfen, um zu überleben, keiner von uns hat den Krieg gewollt.“

Es ist friedlich jetzt. Und die Menschen quirlen in den Straßen. 57.000 Einwohner sollen noch in der Enklave sein, rund 40.000 in der Stadt. Als der Krieg im April 1992 begann, waren sogar an die hunderttausend hierhergeflohen. Aus Foca, aus Rogatica, aus den umliegenden Dörfern an der Drina. So wie Dervisa Husenović. Die 80jährige Frau lebt mit ihrer von Epilepsie geplagten Tochter in einem kleinen Zimmer in einem Flüchtlingsheim, das sie mit vier anderen Personen teilen muß. Außer einer Matratze in diesem Raum ist ihr von ihrem Leben nichts geblieben. Ihr Mann wurde im April 1992 vor ihren eigenen Augen von serbischen Milizionären die Kehle durchgeschnitten, ihr Bauernhof niedergebrannt. Ihre Bettnachbarin, eine 78jährige Frau aus Foča, kann sich kaum mehr bewegen, ihre Hände sind verkrüppelt. Ein Milizionär hatte sie mit dem Gewehrkolben geschlagen. Die zersplitterten Knochen sind nicht mehr richtig zusammengewachsen.

Andere Flüchtlinge von damals wurden von internationalen Organisationen nach und nach in andere Gebiete Bosniens transportiert.

Viele flohen weiter über die Berge; niemand weiß, wieviele damals getötet wurden, als sie in der Nacht durch die serbischen Linien schlichen.

„Wir lieben unsere Stadt. Wir wollen hierbleiben. Niemand bringt uns hier weg.“ Mustafa Kurtović, ein Journalist, steht auf der Brücke und weist auf die umliegenden Hügel. Er kennt alle Positionen der serbischen Artillerie und der Scharfschützen. „Oftmals konnten wir uns wegen des Beschusses gar nicht über die Brücke wagen. Es war zu gefährlich.“ Nicht einmal Kranke konnten damals von der linken Seite des Flusses auf die rechte gebracht werden, wo das Krankenhaus liegt. „Immerhin ist es uns gelungen, erstmals im Juli 1992, die serbische Armee von den Hügeln rechts des Flusses wenigstens zeitweise zu vertreiben.“ Jetzt sind die Hügel dort fest in der Hand der bosnischen Armee. Doch von den Bergen links des Flusses geht weiterhin ständige Gefahr aus.

„Bevor die britischen UNO- Truppen sich am 18. August 1995 von dort zurückzogen und aus Goražde abrückten, hatten sie Stellungen direkt unterhalb der Stellungen der Serben. Sie haben sie nicht daran gehindert, uns zu beschiessen.“

Die Front des Krankenhauses ist direkt diesem Berg zugewandt. Bis zum Dach hin sind Sandsäcke aufgestapelt, um die Kranken vor dem Beschuß zu schützen. Vor dem Eingang sind die Überreste einer Rakete zu sehen, die im Boden steckengeblieben ist. Viele Ärzte sind tot, auch serbische Männer und Frauen, die geblieben waren – unter ihnen, so bedeutet der Künstler Safet Garcević, eine wunderschöne Frau. Anfänglich gab es keine Chirurgen mehr; Kriegsopfer wurden von anderen Ärzten ohne Narkose operiert.

Seit Herbst 1992 ist Srecko Dimić hier. Der Chirurg ist aus Sarajevo gekommen. Er lief damals, im Frühjahr 1993, zu Fuß auf Pfaden durch die Berge, um hier zu arbeiten. Er hat seine Entscheidung nicht bereut. Außer, daß er seine Frau und Kinder nicht sehen kann, die in Deutschland leben. „Die ,Médecins sans Frontières‘ haben uns sehr geholfen. Auch das Rote Kreuz.“ 2.500 Amputationen wurden im Krankenhaus vorgenommen. Niemand wisse die genaue Zahl der Toten. Bis zu 10.000 Menschen mögen es gewesen sein, die seit 1992 in der Enklave getötet wurden, erklärt ein anderer Arzt.

2.000 Babies wurden geboren. Über 4.700 Kinder sind zwischen einem und sieben Jahre alt, weist die Statistik aus. Die Knirpse, die in den letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres durch die Straßen tollen, haben niemals etwas anderes gekannt als den Krieg. Und den Hunger. Babynahrung gibt es nicht. Bis vor kurzem kostete ein Kilo Mehl 20 Mark, Zucker war unerschwinglich wie der Kaffee, für den man über 300 Mark zahlen mußte. Durch die internatioanle Hilfe bekommt jetzt jede Person je ein Kilo Mehl, Bohnen und Reis pro Woche, dazu ein bißchen Öl und Salz. Das reicht aus.

Doch zu den Zeiten, als die Konvois nicht fahren durften, gab es nichts. Und das war oft so. Einige Händler versuchten für teures Geld bei den Pale-Serben einzukaufen; manche habe dies mit ihrem Leben bezahlt, andere dabei gut verdient. Russische Unprofor- Soldaten, die mit den Hilfskonvois aus Belgrad kommen, haben damals die Lage schamlos ausgenutzt. Bis heute bringen sie Zigaretten und Kaffee zu den entsprechenden Preisen. „Sie bereichern sich noch immer an unserer Not“, sagt eine Frau, die allerlei Tand anzubieten hat.

Im Wohnzimmer des „schwarzen Sigi“ hängt ein Foto von Zaim Imamović. Am 9. Oktober, kurz vor der Waffenruhe, wurde der Kommandant der bosnischen Armee von Goražde von einer Granate getroffen. Der Tod ihres Kommandanten hat die Menschen schockiert. Durch seine Umsicht war es ja gelungen, die Enklave am Leben zu erhalten. „Viele sind gefallen, ein anderer Kommandant, Alija Obuca, hat beide Beine verloren“, erzählt Dževad Terović, ebenfalls höherer Offizier der Verteidiger der Stadt. Auch die jugendlichen Söhne schauen mit Ehrfurcht auf das Bild. „Ohne ihn wären wir schon lange tot.“

Die beiden Jungen flüchten sich in die Musik. Beide sind talentiert und waren „gut in der Schule“, wie der Vater stolz vermerkt. Damals, als es noch Schulunterricht gab. Nur ein Jahr lang, 1993/94, wurde während der Belagerungzeit unterrichtet, seither sind die Schulen wieder geschlossen. Es war zu gefährlich, die Kinder in die Schule zu schicken. Und auch zu gefährlich, allabendich an der Drina spazierenzugehen. Viele Jugendliche wurden gezielt durch Granaten verletzt. Sie gingen trotzdem hin. „Was sollen wir denn machen, wann können wir unsere Freunde und Freundinnen treffen?“ fragt Dschenan, der ältere Sohn.

„Ihr sollt endlich verschwinden, denkt an das Beispiel von Srebrenica und Žepa“, höhnt der serbische lokale Radiosender. Die Leute in einem Bekleidungsladen, der Second-hand-Ware anzubieten hat, lachen auf. „So reden sie die ganze Zeit. Wir werden aber bleiben. Niemand bringt uns hier weg.“ Ostbosnien dürfe nicht an die Karadžić-Serben fallen. „Irgendwann wird dieses Gebiet befreit“, hoffen sie.

Der amerikanische Botschafter verabschiedet sich von den Gastgebern, dem Bürgermeister, dem Kommandanten, anderen Vertretern der Gemeinde. Aufmerksam habe er den Klagen der Vertreter Goraždes zugehört, erzählt ein Teilnehmer. Den Klagen darüber, daß die Weltgemeinschaft sich zu lange unentschieden verhalten habe, den Klagen über den britischen General Michael Rose, der zwar im April 1994 an zwei Tagen serbische Stellungen um Goražde bombardieren ließ, die Bevölkerung jedoch zur Aufgabe ihres Widerstands überreden wollte, wie in Srebrenica und Žepa.

Auch ein Dankeschön habe der Botschafter erhalten: dafür, daß die USA ihre Haltung verändert hätten und Goražde nicht mehr aufgeben wollten, daß die Nato Flagge gezeigt habe und den Waffenstillstand erzwungen hat. Den Menschen in Goražde habe dies wieder Hoffnung gegeben.