: Leipziger Allerlei
■ Deutschland, ein Medienmärchen: Die ARD verfilmt Erich Loests "Nikolaikirche" (heute und am Freitag, 20.15 Uhr)
Das Politbüro der SED behauptete anfangs, die Domonstrationen in Leipzig seien eine Produktion des westdeutschen Fernsehens. Frank Beyer gibt dieser These nachträglich recht. Sechs Jahre nach der Grenzöffnung verhebt der renomierte Ostregisseur („Spur der Steine“) sich mit seiner „Nikolaikirche“ an einem wahrhaft staatstragenden Stück Fernsehen, das die letzten Monate in der DDR reflektieren will. Beyer scheitert daran, daß er die Rolle des Fernsehens in seinem monumental angelegten Zweiteiler fast vollkommen ignoriert.
Die „Nikolaikirche“ liefert statt dessen die offizielle Version der sanften Revolution. Die Ossis spielen damit zum zweiten Mal ihre Rolle fürs Fernsehen: 1989 als Komparsen in einem faszinierenden Live-Act und jetzt als Stoff für ein anrührendes Melodram mit sprichwörtlich bewegenden Massenszenen. Der Film endet mit dem friedfertigen Sturm der Stasi- Zentrale und dem programmatischen Satz des MfS-Generals (Peter Sodann): „Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“ Diese falsche Emphase verklärt die aufgestandenen Massen zu einer selbstbestimmten Kraft, die sich in einem heroischen Akt der Fesseln des bürokratischen Staatsterrors entledigt. Es waren jedoch nicht Kerzen und Gebete, sondern vor allem die aufgeregte Darstellung der Ereignisse in den Westmedien, die die Anhänger des Systems plötzlich lähmte. „Wir sind das Volk“ bedeutete auch: Wir sind im Fernsehen. Die DDR ist „an einem Straßenfest gescheitert“ (Matthias Beltz), das erst in den „Bilderschleifen“ (Klaus Kreimeier) der Fernsehberichterstattung zu einer erdrutschhaften Volksbewegung aufgeblasen wurde.
Beyers auf dem gleichnamigen Roman von Erich Loest basierende „Nikolaikirche“ sucht nach der verlorenen Geschichte vom Zusammenbruch der DDR – ohne die Rolle des Fernsehens. Die Montag für Montag in der Kirche größer werdende Versammlung wirkt daher ornamentalisch und blutleer wie in einem amerikanischen TV-Movie. Trotz annehmbarer Darstellung des Pfarrer Ohlbaums durch Ulrich Mühe wirkt sein ewig wiederholter Aufruf zur Gewaltlosigkeit floskelhaft.
Auch der Versuch, den Zusammenbruch aus der Innenperspektive der Familie Bacher transparent zu machen, überzeugt nicht. Daß die zentralen Figuren der Architektin Astrid Protter und ihres Bruder, dem Stasi-Hauptmann Sascha Bacher, mit den Westdarstellern Barbara Auer und Ulrich Matthes fehlbesetzt sind, ist nicht der Punkt. In der „Nikolaikriche“ versammeln sich mit Otto Sander und Ulrich Tukur bis in die Nebenrollen die Creme der deutschen TV-Darsteller. Aber weil er die Geschichte ohne den wahren Kern der Fernsehwirkung aufrollt, zieht sich dieser Fehler wie ein roter Faden durch alle Szenen, und es wundert nicht, daß die „Nikolaikirche“ ein Film gegen die Schauspieler geworden ist.
Treibende Kraft dieser, gegenüber der Vorlage, personell deutlich abgespeckten Filmadaption ist Astrid. Nach dem Tod ihres Vaters, eines hochdekorierten Vopo- Offiziers, fällt sie in eine Sinnkrise und weigert sich plötzlich, routinemäßig Dokumente zu unterzeichnen, die die sozialistische Mangelwirtschaft zur Errungenschaft verklären. Ihr Widerstand wird zur Krankheit erklärt, und die Architektin muß in die Nervenklinik. Astrid ist die einzige Figur des Films, die exemplarisch die Entwicklung zum Neinsagen durchmacht. Doch weil wir von vornherein wissen, daß der Film gut ausgeht, ist weder von der Tragik noch von der Ambivalenz dieser Entwicklung etwas zu spüren.
Im Gegenzug dazu wird das beflissene Klammern am System, das Sascha als Stasi-Hauptmann praktiziert, nicht deutlicher herausgearbeitet. Als Alexanders Freundin sich als Umweltaktivistin zu erkennen gibt, bricht er abrupt die Beziehung zur „Klassenfeindin“ ab. Doch für eigentliche Dimension dieses menschlichen Dramas interessiert sich der Film kaum. Obwohl die verbale Stereotypie des Stasi- Typen bis in die Gestik hinein korrekt dargestellt und auch der gesamte Apparat akribisch rekonstruiert wurde, wirkt das Ganze in weiten Teilen so leblos wie ein Ausstattungsstück.
Unerträglich wird der Film, wenn in den Gesichtern der Widerständler heroischer Glanz aufblitzt. Wenn Pfarrer Reichenborck (Rolf Ludwig) mit dem sächsischen Umweltaktivisten Martin Vocker (René Steinke) an der Spitze eines kleinen Demonstrationszuges von NVA-Soldaten aufgehalten wird, dann wirkt diese Szenerie wie jener Addidas-Werbespot, in dem der altgediente Offizier und Olympiasieger die Panzer aufhält. Statt zu zeigen, wie sich hier pure Verzweiflung und Unsicherheit ihren Weg bahnt, badet der Film in Euphorie. Der ganze Muff und die paranoide Bedrohlichkeit des DDR-Staates sind hinter einer glättenden Kinoästhetik verschwunden. Die „Nikolaikirche“ ist ein Film, der nicht nach Brüchen und Defiziten sucht, sondern den Rumpf der tatsächlichen Ereignisse kinogerecht aufbereitet. Die glatte Geschichte wird im Ausland bestimmt Rührung erzeugen. Manfred Riepe
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