: Dumme Stofftierbande!
■ Weihnachtsmärchen im Goethetheater: Pu der Bär, inszeniert als Hänschen-Klein-Drama
„Wer war noch mal Pu?“ fragt der Sohn (fünf Jahre) nach der Aufführung. Eine niederschmetternde Frage! Eineinhalb Stunden „Pu der Bär“ im Bremer Theater, und das Kind hat die zentrale Figur nicht kennengelernt. Eule – klar, kann fliegen, toll. Kaninchen flitzt immer neurotisch rum, juckt sich, hat lange Zähne, kein Problem. Das ängstliche Ferkel, nun ja, unscheinbar aber einleuchtend. Selbst den düsteren I-Ah hat der Sohn akzeptiert. Aber Pu? Pu gibt sich alle Mühe, ein lieber dummer Bär zu sein, hat sogar Fell im Gesicht, bleibt aber immer und ganz der filigrane Theatermensch Ercan Durmaz, der auf tapsig und dämlich-naiv macht. Eins ist er nicht: ein dickes Stofftier, das einfach Recht hat (d.i.: unser aller Pu).
Gestern morgen um 11.30 Uhr war im Bremer Theater Premiere des Singspiels „Pu der Bär. Über Nichtstun und andere Notwendigkeiten“. Das Große Haus war voller Schulkinder aus Delmenhorst. Überwiegend typische Mitmachkinder. „Hallo Pu!!!“ schreien Mitmachkinder, „dummer Bär!“ Wenn Pu und Ferkel befürchten, ein „Jagular“ sitzt auf dem Baum, schreien Mitmachkinder: „Ist doch Tiger!“ Davon dürfen sich die Schauspieler nicht irremachen lassen, sonst stimmt die Geschichte nicht mehr. Einmal stellt der Junge Christopher Robin, Hauptperson des ganzen Spiels, die existentielle Frage: „Wo gehöre ich hin?“ Brüllt das Publikum: „Ins Bett!“ Gottseidank sind zahlreiche Delmenhorster Lehrerinnen anwesend, die immerfort Psssst machen.
Verhunzt wurde Pu, Weltbestseller von Alan Alexander Milne aus dem Jahr 1926, ja genug. Es gibt Pu aus Seife, Pu auf Buntstiftdosen, Pu als Pop-Up-Buch, Pu als Disney-Figur. Jetzt also Pu in der ambitiösen Inszenierung von Irmgard Paulis („Das rothaarige Mädchen“). Der Anspruch: mehr als nur das notwendige Weihnachtsmärchen. Für Kinder bis hundert.
Wenn Theaterleute einen Stoff in die Finger kriegen, fangen sie an, ihn zu dramatisieren. Milne's Episoden aus dem Kurz-vor-dem-Einschlafen-Reich der Stofftiere beschreiben aber eine statische Welt voller kleiner Abenteuer. Es gibt keine Entwicklung, nur selbstgenügsames Sein und Charaktere, wie jeder sie in seinem Freundeskreis hat. In einer dünnen Rahmenhandlung geht es um das Kind Christopher Robin, das aus seiner Puwelt hinauswächst. Auf dieses Hinauswachsen hat sich die Kinderbuchautorin Heleen Verburg in ihrer szenischen Bearbeitung gestürzt: Pu der Bär – ein Hänschen-Klein-Drama! Darauf stützt sich die Bremer Inszenierung.
In einem traumhaften Bühnenbild aus fahrbaren Bäumen und Nato-Tarnnetz-verhangenen Gemäuern, halb Wald, halb Haus (Giovanni Carluccio), zur großartigen, schmissigen Musik von Alan Bern, wird von einem Kind erzählt, das sechs wird und sich in einem offensichtlich schmerzhaften Prozeß von seiner Phantasiewelt trennt. Christopher Robin versucht noch, seine Stofftiere mit auf eine Nordpolexpedition zu nehmen, doch die Bande, bar jeden Erkenntnisinteresses, kneift. Wutentbrannt zieht Hänschenklein Christopher Robin allein in die Welt hinaus.
Wer Pu kennt, weiß, daß diese Nordpol-Geschichte eine Fälschung ist. Im Original entdeckt Pu unter heroischen Umständen den Nordpol. Aber wenn's dem Plot dient ... (Dramaturgie: Ulrich Fuchs). Leider wird Christopher Robin zum Ende hin solch ein miesepetriger Schuljunge, daß er sogar die Sympathien des Publikums verspielt. Er will nämlich Klein-Ruh und Tiger veranlassen, sich von einem hohen Baum fallen zu lassen, um dadurch Erkenntnisse über das „Wohin“ nach dem Tode zu gewinnen. Pfui, Christopher Robin! Was machen sie aus dir?
Eule kann fliegen; Pu schwebt am blauen Ballon in die Krone eines Baumes, um Bienen auszunehmen; und wie sich der ungestüme Tiger aus einem Geschenkpaket auspackt, das ist hochdramatisch. Kinder, egal ob sie fünf sind („Pu fand ich besser als Jim Knopf in Lilienthal“) oder aus Delmenhorst, haben ihren Spaß. Erwachsene, die an Milnes Pu-Büchern die durchaus irrwitzige Ironie schätzen, mit der es durch die Metaebenen geht, bleiben besser zu Hause.
Oder sie suchen Trost bei I-Ah. Der Esel (Luis Bernado Raposo), fertig mit der Welt, hat sein Selbstmitleid als Weltverachtung kompensiert und zur Kultur erhoben. Wie wir Großen.
Burkhard Straßmann
Weitere Aufführungen: 26., 27., 29., 31.Oktober usw.
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