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Sehr moralös

■ betr.: „68er im Dienste der Dikta toren“, taz vom 20. 10. 95

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Am 17. 10. besuchte ich eine Veranstaltung von Freya Klier zum Thema „Erziehung in der DDR“, in der viele anwesend waren, die das DDR-Regime verfolgt und eingesperrt hat. In ihre Verbitterung darüber, daß das ihnen angetane Unrecht in Vergessenheit zu geraten droht, mischte sich ein Haß auf die 68er, die aus ihrer Sicht die DDR-Verbrechen verharmlosen und ehemaligen SED-Genosen die Hand reichen. Mir kam dieser Vorwurf falsch und ungerecht vor. Daß wir zu DDR-Unrecht geschwiegen haben, weil dieses Feld von der Rechten so selbstgerecht besetzt war, muß heute kritisiert werden, aber diese von Stalin eingesetzte sozialistische Totgeburt, von einem repressiven Parteiapparat scheinbar am Leben erhalten, hatte für die meisten von uns 68ern mit unseren Vorstellungen von einer anderen Gesellschaft absolut nichts zu tun. Deshalb konnte ich mir an diesem Abend eine solche Kungelei mit den gewendeten grauen Repressionsbürokraten nicht vorstellen.

Um so betroffener las ich Falco Werkentins Artikel über das Engagement vieler 68er Juristen, die derzeit solche Leute vor Gericht vertreten und dabei Argumente wie den berüchtigten allseitigen Befehlsnotstand vorbringen, den wir in Zusammenhang mit NS- Verbrechen immer scharf zurückgewiesen haben. Was geht hier in den Köpfen vor? Etwa ein larmoyanter Zusammenklang nach der Melodie: „Unsere Ideale waren doch die gleichen, nur die verstockte Trägheit der Substanz Mensch hat uns scheitern lassen?“

Es geht mir hier nicht um die Rettung einer imaginären Ehre der 68er Generation. Aber eines unserer Essentials war: Keine Revolution ohne Emanzipation, der Weg ist so wichtig wie das Ziel, es geht nichts über die Köpfe weg, sondern nur durch Kopf und Herz hindurch. Von daher trennen uns Welten von solchen Schergen eines Überwachungsstaates. Schlimm genug, daß die Verwüstungen, die die DDR hinterlassen hat, auf unabsehbare Zeit viele linke Ideen diskreditiert haben, und die PDS als Phantomtrieb am verwesten Baumstumpf DDR eine radikale Bestandsaufnahme und einen wirklichen Neuanfang verhindert.

An allgemeinen Menschenrechten orientierte Moral, in Zeiten wie dieser der wichtigste Maßstab, darf niemals teilbar sein. Unsere Selbstkritik hinsichtlich unserer Haltung zum DDR-Unrecht muß deshalb dazu führen, daß wir uns unmißverständlich an die Seite der Opfer stellen, die in ihrer zunehmenden Verbitterung ihre Freunde sonst nur noch unbesehen bei den Feinden ihrer Feinde suchen. Gottfried Ensslin, Berlin

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