: Mit dem Tandem an die Müritz
Ein Selbstversuch, allen Warnungen zum Trotz: Die Straßen sind besser als ihr Ruf, die Seen sind sauber, die Landschaft ist eindringlich, aber zum Glück nur dezent hügelig, denn schließlich ist der Weg das Ziel ■ Von Marie-Luise Goerke
Daß die Mecklenburgische Seenplatte samt Müritz wunderschön sein soll, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Daß sich tatsächlich (ehemalige) Westberliner aufmachen, jene Schönheiten mit dem Fahrrad, zudem noch mit einem Tandem, selbst in Augenschein zu nehmen, stößt auf hartnäckiges Unverständnis: Man kann nämlich im Osten (natürlich heißt es immer noch ganz politisch unkorrekt „der Osten“) gar nicht radfahren, belehrt man uns.
Allen Warnungen zum Trotz starten wir einen Selbstversuch, denn eigentlich ist das Seengebiet zwischen Berlin und Ostsee ja wie geschaffen für einen Radwanderurlaub: nicht zu weit entfernt, ruhig, grün, unberührt. Und auch der Straßenzustand dürfte doch mittlerweile wohl keine Schwierigkeiten mehr machen – im Jahre 6 nach dem Mauerfall! Schlecht ausgebaute Straßen sind denn auch erwartungsgemäß nicht wirklich das Problem. Die überall neu asphaltierten Straßen werden entsprechend häufig und schnell von Autos befahren; die weniger gut ausgebauten Straßen sind eher Feldwege. Dazwischen gibt es wenig, zumindest bis Rheinsberg.
Ein Tandem besticht jedoch auf den Quasi-Autobahnen und auf den Schotterwegen durch allerlei Vorzüge: 1. Es wird nicht so leicht übersehen; 2. ist es sowohl stabiler als ein Rennrad, das öfter als fünfmal einen Ort mit jäh auftretendem Katzenkopfpflaster zu durchqueren hatte, als auch schneller als ein schweres Hollandrad; 3. treten vier Beine besser als zwei; und 4. ist es wunderbar als Beziehungsthermometer geeignet – aber das ist ein anderer Artikel.
Wir retten uns im Autoscheinwerferlicht bis hinter Rheinsberg, wo der Urlaub richtig anfängt. Die Seen nordwestlich Berlins sind nicht nur einer schöner als der andere, sondern begeistern auch durch sauberes Wasser. Sie sind außerdem erstaunlich dünn besucht. Denn auf den Campingplätzen (auf denen man ja auch gar nicht campen kann) ist man unter sich. Die eigentlichen Herrscher der mecklenburgischen Hügellandschaft sind nämlich Dauercamper. Sie kommen aus Ostberlin, Leipzig oder Magdeburg, bauen ihre Zelte im April auf, brechen sie im Oktober wieder ab, und pflegen liebevoll an den Wochenenden dazwischen ihre Blumenrabatte. Mit solch östlichem Charme verschönerte Campingplätze lassen den durchschnittlich eher geringen hygienischen Komfort vergessen, den aber sowieso nur „Westzicken“ vermissen, wie man uns beim Lübzer Bier vertraulich mitteilt.
Daß hier die Gastronomie nicht vor 11 Uhr, nicht zwischen 15 und 18 Uhr und nur bis 21 Uhr ihre Türen offenhält, weiß jeder. Uns ausgenommen. Statt Frühstück heißt es also radeln, und zwar auf Wegen, deren eigenartige Formen von den Betongußteilen herrühren, die nur in den jungen Bundesländern anzutreffen sind.
„Ich sage es Ihnen gleich“, erkärt uns die Bewirtschaftung im Örtchen Nossentin, „ich habe nur noch zwei Brötchen, und das Essen dauert 30 Minuten.“ Unser Wagemut wird auf einer schattigen Veranda mit fürstlichem Frühstück samt Brotauswahl, Sammeltassen, abwaschbarer Blumentischdecke belohnt.
Solche Zeitreisen, die sich mit der herben, schönen Landschaft Mecklenburgs paaren, haben Auswirkungen auf unsere Radfahrerseelen. Das ist nicht auf den normalen und bekannten Effekt der körperlichen Anstrengung für Schreibtischverwöhnte und der erhöhten Sensibilität für die Umgebung zurückzuführen. Aber diese Region hinterläßt Bilder von großer Eindringlichkeit: durch Buchen verdunkelte Alleen, von Störchen durchquerte Wolkenfelder, auf Strommasten nistende Raubvögel.
Direkt neben Boek liegt der Eingang zum Müritz-Nationalpark, dessen 310 Quadratkilometer aus Mooren, Tümpeln, Sandlandschaften, Wäldern und – natürlich – Seen bestehen. An der eigentümlichen Oberflächengestalt des Schutzgebietes ist die letzte Eiszeit schuld, für das Aufspüren des richtigen der vielen Wander- und Radwege, die für dieses Fleckchen absolut unentbehrliche detaillierte Karte. So viele Radfahrer wie hier haben wir bislang insgesamt nicht gesehen, so viele Mountainbiker ebenso nicht. „Geht der Weg so weiter?“ fragt uns eine entgegenkommende Durchtrainierte im schicken Outfit. Als wir fluchend bejahen – denn es handelt sich um einen weder eingezeichneten noch kürzeren Weg, sondern eher um eine Sandgrube –, lacht sie glücklich. „Dafür bin ich doch extra hergekommen“, klärt sie uns auf, „wo gibt es sonst noch so coole Trainingsstrecken.“
Für das Radwandern geeignete Karten:
–„Rund um die Müritz“, Freizeitkarte im Stadt + Land-Vertrieb (ganz neu erstellt) im Maßstab 1:60.000
–„ADFC-Radtourenkarte Ostseeküste/Mecklenburg“ im Maßstab 1:150.000
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