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Auf tausend Jahre alten Wegen

Ein Netz von traditionellen Viehtriebwegen durchzieht Spanien. In den vergangenen Jahrzehnten wurden sie zunehmend vernachlässigt. Initiativen wollen die alten Traditionen neu beleben und die touristische Nutzung fördern  ■ Von Antje Bauer

„Es ist eine ganz schön mühsame Sache. Im Sommer fängst du früh um sieben an zu laufen, in der Mittagshitze schläfst du, und dann läufst du nochmal bis abends. Irgenwann haust du dich am Wegrand in den Schlafsack oder in eine Decke und mußt die ganze Nacht lang ein Auge auf die Kühe haben, damit sie sich nicht verlaufen. Im Winter sind die Zeiten kürzer, weil es schneller dunkel wird. Abends um fünf sperrst du die Herde ein, und dann mußt du die Zeit totschlagen bis zum nächsten Tag. Duschen kannst du vergessen. Und nur wenn du auf dem Weg irgendwo ein Restaurant findest, kriegst du etwas Warmes in den Bauch. Wenn nicht, gibt's nur Brotzeiten.“

Jesus Sanchez ist Kuhzüchter in der Sierra de Gredos, einem Berggebiet nahe der zentralspanischen Kleinstadt Avila. Im Winter ist es kalt hier, mit Frost und Schnee. An jedem 10. Dezember sucht sich Jesus Sanchez zwei Freunde, schart seine 274 schwarzen Kühe um sich und macht sich auf den Weg ins Tal. Acht Tage läuft er mit seiner Herde bergab, bis er in die Nähe des Städtchen Trujillo kommt. Dort ist das Klima auch im Winter mild. Er bringt die Kühe auf eine gepachtete Weide und fährt wieder nach Hause. Einmal die Woche geht er nachschauen, ob noch alle da sind, ob eine Kuh gekalbt hat, oder eine krank geworden ist. Genau sechs Monate später, am 10. Juni, kehrt er nach Trujillo zurück und macht sich mit seiner Herde auf den Heimweg. Denn hier fängt im Juni die Sonne langsam an zu brennen, das Gras verdorrt, die Kühe werden schlapp. Zu Hause in Avila hingegen weht auch im Sommer ein kühles Lüftchen, und auf den Wiesen ist überall noch ein Gräschen zu finden.

Die Wege, die José mit seiner Herde geht, sind mehr als 1.000 Jahre alt. Schriftliche Quellen belegen, daß bereits im sechsten und siebten Jahrhundert Hirten der iberischen Halbinsel mit ihren Herden zweimal pro Jahr Weidewechsel betrieben. Zunächst waren die Wanderungen der Hirten wohl nur kurz: Man suchte ein Nachbartal auf, das je nach Jahreszeit ein besseres Klima für die Tiere hatte. Mit der Reconquista, der Eroberung der spanischen Halbinsel durch die Katholiken, dehnte sich das Gebiet, auf dem gewandert wurde, aus. Im Mittelalter war ganz Spanien bereits von Asturien bis nach Andalusien von zahlreichen Viehwegen durchzogen, die teilweise untereinander durch andere Wege verbunden waren. Die Wege verliefen großenteils in Nord-Süd-Richtung. Die Wanderungen dauerten höchstens zwei Wochen.

Die Viehzüchter waren in „Mestas“ vereinigt, vergleichbar mit Zünften, deren Mitglieder sich mehrmals jährlich trafen. Sie waren eine wirtschaftlich sehr bedeutende Zunft und standen unter dem besonderen Schutz der kastilischen Könige. In der Hochzeit der spanischen Viehzucht, als Kastilien Europas größter Exporteur von Merinowolle war, wanderten jährlich 5 Millionen Tiere – hauptsächlich Schafe, aber auch Ziegen und Kühe – von Weide zu Weide. Neun geschützte Hauptwanderwege, die „Canadas reales“, königliche Viehtriebwege, genannt wurden, und zahlreiche kleine Nebenwege erreichten eine Länge von insgesamt 125.000 Kilometern. Die Hauptwege waren mindestens 75 Meter breit, sie dienten als Weide für die Tiere. Wenn das Gelände keinen Privateigentümern gehörte, durften die Tiere überall grasen. Schon aus dem Mittelalter sind jedoch Streitigkeiten zwischen den Hirten und den Anwohnern der Wege bekannt. Während die Hirten versuchten, die Wanderwege möglichst zu verbreitern, um das Vieh besser zu ernähren, bemühten sich die Anwohner ihre Felder auszudehnen, auf denen sie Ackerbau betrieben.

Wirklich zurückgedrängt wurden die Hirten aber erst in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts. Es war die Zeit, in der man, wo immer es möglich war, zur rentableren Bewässerungskultur überging, und der Streit um den Boden begann. Viele Viehzüchter hängten ihren Job an den Nagel und emigrierten oder suchten sich eine besserbezahlte Arbeit in der Industrie. Der Mythos der Moderne ließ auch den Generalissimo Franco Straßen und Eisenbahnlinien bauen – niemanden kümmerte es sonderlich, wenn diese Straßen auf den geschützten Viehtriebwegen entlangliefen oder sie durchschnitten. Ein paar zurückgebliebene Schäfer waren keine ernstzunehmende Opposition. Auch Bauern dehnten ihre Felder aus, andere bauten darauf Häuser oder Restaurants. Die Hirten hatten das Nachsehen.

Seither ist die Zahl der Herden, die Weidewechsel betreiben, kontinuierlich zurückgegangen. Die Zahl der Bauern hat abgenommen. Viele halten die Tiere als Nebenbeschäftigung und gehen ansonsten einer anderen Arbeit nach: Sie haben keine Zeit, zweimal im Jahr ihre Tiere zu treiben. Viele hauptberufliche Viehzüchter ziehen es heute vor, das Vieh auf Laster zu laden und auf die andere Weide zu fahren. Das ist zwar teurer, aber schneller und vor allem bequemer. Und moderne Kuhbauern, die hochgezüchtete Milchkühe halten, lassen sie gleich im Stall: Nur die besonders widerstandsfähige schwarze Kuh von Avila ist der Strapaze der Wanderung gewachsen. „Die Kühe müssen von klein auf daran gewöhnt werden zu laufen. Wenn eine mal ein Jahr pausiert, gibt's danach schon Probleme: Dann will sie nicht gehen, verläuft sich“, sagt José. Der Weidewechsel von Schafen ist etwas stärker erhalten geblieben, doch auch er nimmt ab.

Gerade mal 400.000 Tiere wandern nach offiziellen Zahlen noch heute zweimal im Jahr. Wenig im Vergleich zum Mittelalter, aber dennoch einzigartig in Europa. In der Gegend um Avila hat sich diese Tradition noch am stärksten erhalten. Die kargen Hügel erlauben keine rentable Landwirtschaft, und Viehzucht ist noch immer eine wichtige Einkommensquelle. „In meinem Dorf wandern die meisten Viehzüchter“, erzählt José Sanchez. „Aber das sind vor allem die Alten. Die Jungen haben keine Lust mehr drauf.“ Für den 32jährigen ist es häufig nicht leicht, Gefährten für die Wanderung zu finden. Nicht nur, weil die Jungen lieber in der Stadt als Kellner oder auf dem Bau arbeiten. Sondern auch, weil der Weidewechsel heute zu einer mühseligen Arbeit geworden ist.

Hinter dem mittelalterlichen Städtchen Avila führt eine Landstraße zu einem Dorf. Die zweispurige Straße verläuft parallel zu einem Viehtriebweg. Erkenntlich ist dieser nicht: Die Hirten müssen das Gelände kennen, auf dem sie ihr Vieh führen dürfen. An manchen Stellen kreuzt dieser Weg die Straße. Ein Verkehrsschild mit einer schwarzen Kuh drauf kündigt das an, wenige Meter dahinter zeigen braune Kuhfladen auf der Straße, daß hier die Tiere überquert haben. Ein paar hundert Meter verläuft der Weg entlang der Straße, dann erneut ein Verkehrsschild und die Kuhfladenspur. Eine Sisyphosarbeit für den Hirten, der den Verkehr anhalten und die Tiere auf die andere Seite leiten muß, ohne daß sich eins verirrt. Fast schlimmer noch sind die Wegstrecken, die direkt neben der Straße entlangführen. Leicht gerät eine Kuh auf die Straße und stößt mit einem Auto zusammen. „Die Guardia Civil kümmert sich nicht darum, für uns hier das Überqueren zu erleichtern, obwohl sie ganz genau weiß, wann wir hier treiben. Und wenn es einen Unfall gibt, dann kann man sehen, wo man bleibt. Aber eigentlich müßten Kühe, die hier seit 500 Jahren entlanglaufen, mehr Recht haben als Autos, die es erst seit 40 Jahren gibt“, schimpft Jesus Sanchez.

Seit einigen Jahren sind unerwartete Verteidiger auf seiten der Schäfer aufgetaucht. Umweltschutzgruppen haben entdeckt, daß die alten Viehtriebwege zunehmend für Autoverkehr und private Interessen genutzt werden, und daß die vielen Kilometer öffentliches Gelände doch eigentlich besser genutzt werden könnten. Selbst die Regierung in Madrid ist in Bewegung geraten und hat einen Gesetzestext zum Schutz der Viehtriebwege ausgearbeitet. Unter dem Namen „Pasillos Verdes“, grüne Korridore, ist ein Projekt entwickelt worden, das nicht nur die Viehtriebwege, sondern auch stillgelegte Eisenbahnlinien und Wasserkanäle ökologisch und ökonomisch sinnvoll nutzen will. Wander- und Fahrradwege, Motorrad- und Reitwege könnten auf den Strecken angelegt werden, so die Idee. Dadurch würden diese Wege wieder genutzt und könnten außerdem dem Sonnen- und Badetourismus noch den sanften Wandertourismus hinzufügen.

Die Idee war groß, die staatlichen Geldsummen dafür klein, und die Umsetzung scheiterte bald am allgemeinen Desinteresse. In Katalonien etwa sollte auf der Trasse der alten Eisenbahnlinie zwischen Gerona und der Kleinstadt Olot ein Fahrradweg angelegt werden. Im Rathaus von Olot holt man zur Anschauung bereitwillig große Planungsskizzen hervor – viel Konkretes gebe es noch nicht, wird jedoch eingeräumt. Die Tourismusinformation wisse vielleicht mehr. Auch in der Information ist man äußerst hilfsbereit – allerdings, mehr als ein paar Kilometer hat der Fahrradweg nicht aufzuweisen. „Am Sonntag fahren da die Familien gern lang“, berichtet man, „aber nach ein paar Kilometern ist schon wieder Schluß.“

Bürgermeister Daniel Tarradellas ist frustiert darüber. Sein Dorf Les Preses liegt auf der geplanten Fahrradstrecke. Von Olot aus kann man bereits herfahren, aber das sind nur ein paar Kilometer, und danach ist Schluß. Innerhalb seiner Gemeinde hat er alles Denkbare für die künftigen Touristen vorbereitet: Der Fahrradweg im Ort ist ausgewiesen, im Bahnhof ist ein Kulturzentrum sowie eine Informationsstelle eingerichtet. Auch sonst bietet das kleine Dorf alles an Infrastruktur, was ein sanfter Tourist erwarten kann: Es gibt einen „Ökocamping“ und ein Haus, in dem Gruppen unterkommen können. Im Sommer finden im Dorf Seminare und Folklorefestspiele statt. „In den Nachbargemeinden ist das Interesse an dem Fahrradweg nicht sonderlich groß“, mutmaßt Tarradellas. „Die haben noch nicht begriffen, daß ein begrenzter, sanfter Tourismus hier viel besser ist als große Hotels und Einkaufszentren.“ Und solange die Nachbargemeinden nicht mitmachen, wird der Fahrradweg zwischen Gerona und Olot weiterhin Stückwerk bleiben.

Während die „grünen Korridore“ vor sich hindämmern, setzt sich seit zwei Jahren eine Organisation mit Namen „Projekt 2001“ für eine Wiederbelebung der Kultur des Weidewechsels und den Erhalt der Viehtriebwege ein. Mehrere spanische Umweltschutzgruppen organisierten im vergangenen Jahr mit Unterstützung der Stiftung Europäisches Naturerbe, der EG und der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt den Viehtrieb einer 2.000köpfigen Schafherde von der Provinz Extremadura im Süden bis zu den Picos de Europa in Nordspanien. 1.000 Kilometer in 40 Tagen. Durch den medienwirksamen Treck, der bis 2001 jährlich stattfinden soll, wollen sie die Aufmerksamkeit auf die Viehtriebwege und die tausend Jahre alte Tradition des Weidewechsels lenken und verlangen eine Förderung, damit sie nicht ausstirbt.

In Avila werden diese Initiativen mit einer Mischung aus Aufmerksamkeit und bäuerlicher Skepsis verfolgt. „Die tun fast so, als hätten sie etwas wiederentdeckt, was schon vergessen war“, sagt Pedro Herraiz von der Rinderzuchtvereinigung am Ort. „Dabei gibt es diesen Weidewechsel die ganze Zeit.“ Wie lange es ihn allerdings noch geben wird, ist eben fraglich. „Den Viehtrieb abzuschaffen, ist wie eine Kirche einzureißen“, urteilt der Schäfer Jesus Sanchez. „Das gehört schließlich zu unserer Kultur.“ Dennoch hat auch er manchmal Lust, alles hinzuschmeißen. „Wenn die Herde auf einer Seite der Straße ist, und eine Kuh ist auf der anderen zurückgeblieben, und ich weiß nicht, wie ich sie holen soll, ohne daß sie überfahren wird. Wenn der Bach anschwillt wegen viel Regen, und die Kühe weigern sich durchzuwaten. Und dann sitzt du da einen Tag, zwei Tage, und wartest, bis das Wasser wieder sinkt – dann schwöre ich mir, das ist das letzte Mal, daß ich mit den Kühen wandere.“

Doch bislang ändert er seine Meinung immer wieder. Jeweils zweimal im Jahr.

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