piwik no script img

Zeitweilig im fremden Nest

■ Erste Fachtagung zur Bereitschaftspflege / Gespräch mit Alexandra Szylowicki von „Pfiff“

Das Jugendhilfe-Gesetz forderte, große Kinderheime aufzulösen und dafür kleine familienorientierte Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. So entstanden vor etwa zehn Jahren etliche Projekte zur kurzfristigen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Vom 1. bis zum 3. November findet in Hamburg die erste bundesweite Fachtagung zur Bereitschaftspflege statt, zu der rund 100 TeilnehmerInnen erwartet werden. Die taz sprach mit Alexandra Szylowicki, Geschäftsführerin des Hamburger „Pflegekinder und ihre Familien Förderverein“ (Pfiff).

taz: Was versteht man unter Bereitschaftspflege?

Alexandra Szylowicki: Die Kinder kommen aus akuten Notsituationen in eine Pflegefamilie. Zum Beispiel, wenn eine alleinerziehende Mutter ins Krankenhaus muß oder ein Elternteil eine Trennung psychisch nicht verkraftet und mit der Sorge für das Kind kurzzeitig überfordert ist. Andere Kinder nimmt das Jugendamt aus den Familien, weil sie mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden.

Wie lange bleiben die Kinder in den Pflegefamilien?

Drei Monate, in Ausnahmefälle sechs Monate. Denn die Kinder und auch die Pflegefamilien sollen sich nicht zu sehr aneinander binden. Leider sieht die Realität meist anders aus. Das Prozedere dauert, bis geklärt ist, ob sie in die Familie zurückkehren können oder nicht, meist lange. Gerichtsverhandlungen müssen abgewartet, Gutachten angefertigt werden. Gerichte oder die Ämter für Soziale Dienste vergessen dabei oft, daß die Kinder schnellstmöglich wieder endgültige Beziehungspersonen brauchen. Der größte Teil kommt später in die Familien zurück. Manche tauchen wieder mal bei uns auf. Einzelne bleiben in den Pflegefamilien.

Wer kann Stand-by-Familie werden?

Wir arbeiten mit Laien, die keine pädagogische oder psychologische Ausbildung haben. Zur Zeit haben wir 16 Familien, die 23 Plätze anbieten. Wir bräuchten aber mehr. Voraussetzungen sind, daß ein Familienmitglied nicht berufstätig ist, das jüngste eigene Kind nicht jünger als zwei Jahre ist und die Familie genug Platz hat. Großen Wert legen wir auf Toleranz und Offenheit. Das bedeutet auch, daß die Pflegeeltern dem Kind nicht zu sehr ihr eigenes Milieu aufdrängen, damit es seine eigene Identität bewahren kann.

Eine hohe Anforderung. Wie werden die Pflegeeltern auf die Aufgabe vorbereitet?

Wir schulen sie zum Beispiel in Themen wie „Nähe und Distanz". Da sie sich immer wieder auf neue Kinder einstellen müssen, müssen sie lernen, nicht zu sehr mit ihren Schützlingen mitzuleiden. Auch nicht, wenn diese in Verhältnisse zurückkehren müssen, die die Pflegefamilien als schrecklich bezeichnen würden. Wir bieten permanente Begleitung und Supervision an.

Sind die Pflegefamilien nicht dennoch manchmal überfordert, wenn sie zum Beispiel sexuell mißbrauchte Kindern bei sich aufnehmen?

Das ist richtig. Deshalb müssen wir sehr darauf achten, welche Kinder in welche Familien passen. Können sie mit Behinderten oder HIV-Infizierten umgehen? Wie kommen die eigenen Kinder mit den Pflegekindern zurecht? Selten nehmen wir ein Kind aus der Pflegefamilie. Das ist für beide Seiten schwer zu verkraften. Das Kind fühlt sich abgelehnt, die Familie als Versager. Belastend für Pflegeeltern kann auch sein, wenn sich Kinder in ihrer Wohnung mit ihren gewaltbereiten Eltern treffen.

Kein unproblematisches Konzept.

Das Modell ist an sich gut. Aber leider sind es zu wenig Pflegeeltern. Nicht jedes Kind kann in jede Pflegefamilie vermittelt werden. Deshalb müssen wir das Unterbringungsspektrum flexibler machen.

Was steht auf dem Programm der Fachtagung ?

Es sollen Standards entwickelt werden für Begleitung, Beratung und personelle Ausstattung der Bereitschaftspflege-Organisationen. Und es gibt die Frage: Müssen die bisher ganz verschiedenen Modelle – die einen arbeiten beispielsweise mit Laien, die anderen mit professionellen Pflegefamilien – vereinheitlicht werden, oder ist gerade die Vielfalt und Flexibilität unsere Stärke? Fragen: Patricia Faller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen