■ Immigration & Literatur Leseprobe
: Jerusalem 1973

1

Als der Krieg ausbrach, wurde unser Kind

entwöhnt. Ich lief und schaute

auf die schreckliche Wüste.

In der Nacht kehrte ich wieder heim, ihn

schlafen zu sehn. Schon fängt er an,

die Brüste seiner Mutter zu vergessen,

er wird sie ganz vergessen

bis zum nächsten Krieg.

So klein – und seine Hoffnung schließt sich,

die Klagen öffnen sich, die

nicht mehr enden wollen.

2

Im Herbst brach der Krieg aus, im Niemandsland

zwischen Zitrusfrüchten und Trauben.

Der Himmel ist blau wie Venen an den Schenkeln

einer geplagten Frau. Die Wüste –

ein Spiegel für den Beschauer.

Betrübte Männer tragen die Erinnerung an

ihre Lieben im Rucksack, in der Seitentasche,

im Patronengürtel, in den Säcken der Seele,

in schweren Traumblasen unter den Augen.

3

Die Oktobersonne wärmt unsere Gesichter.

Ein Soldat füllt Säcke mit feinem Sand,

einst spielte er damit.

Die Oktobersonne wärmt unsere Toten,

die Trauer ist ein schweres Brett aus Holz,

die Nägel sind die Tränen.

4

Ich habe nichts zu sagen über den Krieg,

ich kann nichts hinzufügen – ich schäme mich.

Auf alle Erfahrungen meines Lebens

verzichte ich, wie eine Wüste auf Wasser.

Ich vergesse Namen, die ich niemals

vergessen wollte

Weil Krieg ist, sage ich noch einmal

um der letzten, einfachen Süße willen:

Die Sonne kreist um die Erde, ja,

die Erde ist flach wie ein verlorenes Brett

und blüht, ja,

es gibt einen Gott im Himmel, ja.

5

Ich habe mich abgeschlossen, ich bin

ein schwarzer, dunkler Sumpf

und schlafe Krieg

wie einen Winterschlaf.

Man hat mich auf den Ölberg

als Totenkommandant gestellt.

Ich verliere stets,

auch wenn ich siege.

10

Ich denke manchmal an meine Ahnen,

meine Väter aus der Zeit der Tempelzerstörung,

an die Qualen im Mittelalter bis hin zu mir.

Bis zu meinen Großvater

reicht mein Erinnern nur

er hat bloß zwei Hände,

keinen eigenen Stecker

noch einen zweiten Nabel,

noch irgendein Gerät zum Empfang

und zur Weitergabe an mich.

Es war ein Dorfjude, gottesfürchtig

mit schweren Augen, ein Alter

mit einer langen Pfeife.

Meine erste Erinnerung:

Großmutter ließ mit zitternden Händen

einen Kessel mit kochendem Wasser

auf meine Füße fallen,

als ich zwei Jahre alt war.

11

Meine Geburtsstadt wurde von Kanonen zerstört.

Das Schiff, mit dem ich herkam,

wurde im Krieg versenkt.

Die Tenne in Chamdia, in der ich liebte,

ist verbrannt.

Der Kiosk in Ein Gedi wurde vom Feind

gesprengt, die Brücke in Ismailia,

die ich immer wieder

in meinen Liebesnächten überschritt,

wurde in Stücke gerissen.

Nach exaktem Plan wird hinter mir

mein Leben ausradiert. Wie lange

können Erinnerungen standhalten?

Das Mädchen meiner Kindheit

haben sie erschlagen, und mein Vater starb.

Deshalb nehmt mich nicht

zum Geliebten, nicht zum Sohn, nicht

zum Untermieter, nicht zum Staatsbürger

noch zum Brückenüberschreiter. Jehuda Amichai

Jehuda Amichai, geboren 1924 in Würzburg, gilt als einer der bedeutendsten israelischen Schriftsteller der Gegenwart. Im Alter von elf Jahren emigrierte er nach Palästina. Jerusalem, die Stadt, in der er lebt und arbeitet, ist ein wichtiges Motiv in seinem literarischen Werk, das neben Lyrik auch Dramen und Prosa umfaßt. Der hier stark gekürzte Auszug eines Gedichts ist seinem Band „Wie schön sind deine Zelte, Jakob. Gedichte“ (Piper 1992, 16,80 DM) entnommen.