: Eilverfahren im Schneckentempo
Verwaltungsrichter sind die Langsamsten ihrer Zunft. Mehr als 20.000 Verfahren blieben 1994 unerledigt liegen. AnwältInnen sprechen von Rechtsverweigerung und Verzögerungstaktik der Behörden ■ Von Nina Kaden
Wenn eine Klage als Prozeßakte bei Gericht landet, dann hat sie ein langes Aktendasein vor sich. Während eines Prozesses werden die Ordner 29 Tage lang herumgefahren. Dies habe eine Untersuchung ergeben, erzählt Rechtsanwalt Karsten Sommer. Bei Streitigkeiten mit Behörden müssen Bürger immer öfter immer längeren Atem mitbringen, denn Verwaltungsrichter gelten unter Richterkollegen als besonders langsam. Im Gegensatz zu den Zivil- und Strafgerichten bearbeiteten sie jeden Einzelfall mit wissenschaftlicher Akribie. „Außerdem meinen viele, mit einem Urteil über das Abschleppen eines Autos einen Literaturpreis gewinnen zu müssen und feilen drei Tage an den Formulierungen“, so ein Verwaltungsrichter.
Die Kläger haben oft das Nachsehen. Sommers Mandanten, die Bewohner der Brückenstraße in Mitte, warten seit Juli 1993 auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts über ihren Wunsch nach verkehrsbeschränkenden Maßnahmen. Tegeler Bürger aus der Nähe des Flughafens gedulden sich seit 1990 mit ihrer Klage. Ähnlich lange warten ihre Leidensgenossen aus Tempelhof. Die Akten ihrer Klage auf Schließung beziehungsweise Betriebsbeschränkung des Flughafens werden seit 1991 herumgefahren. „Durch diese Verfahrensdauer entstehen bei den Klägern Gesundheitsgefahren“, sagt Sommer.
Natürlich dauern Großverfahren, wie die zu den Flughäfen, an den Gerichten überdurchschnittlich lange. Aber nach Einschätzung von Anwälten muß sich auch jeder kleine Bauherr rund zwei Jahre gedulden, bis ein Verwaltungsgericht entscheidet, ob er sein Häusle errichten darf oder nicht. „Deswegen klage ich nicht nur, sondern gleichzeitig versuche ich mich mit der Baubehörde zu einigen“, sagt Anwalt Stefan Kobes. Oftmals muß der Investor dann von seinem ursprünglichen Plan abrücken: In Hennigsdorf wollte ein Mandant Kobes ein Wohn- und Geschäftshaus bauen. Weil die Behörde monierte, er müsse dabei Abstandsflächen zum Nachbarhaus einhalten, baut er jetzt wahrscheinlich kleiner. „Zu klagen und sein Recht durchzusetzen ist oft einfach zu teuer“, sagt Kobes.
Die Behörden taktieren mit der langen Verfahrensdauer, denn sie wissen: Nur wer Geld und Nerven hat, kann seine Ansprüche in einem langen Verfahren durchsetzen. Da die meisten weder das eine noch das andere haben, sind sie darauf angewiesen, sich außergerichtlich zu einigen und dann klein beizugeben. „Die Verwaltungsgerichte geben den Behörden auf diese Weise ein Drohpotential in die Hand, so daß eine enorme Rechtsgefährdung entstehen kann“, meint Christoph Riese, ein Anwaltskollege von Kobes.
Die Behörden nutzen die Langsamkeit der Verwaltungsrichter nicht nur aus, um ihre Vorstellungen durchzudrücken, sondern auch, um sich vor unbequemen, politisch nicht erwünschten Maßnahmen zu drücken: Im Juni dieses Jahres gewannen Anwohner der Neuköllner Silbersteinstraße einen Prozeß gegen die Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe wegen Schadstoff- und Lärmbelastung. Anstatt in der Durchgangsstraße die Belastungen und gegebenenfalls den Verkehr zu beschränken, ging die Verwaltung in die zweite Instanz. „Die wissen, das kann jetzt noch lange dauern. Das ist Verzögerungstaktik“, sagt der Anwalt Wolfram Sedlak. Er rät allen Klägern, neben einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch politisch aktiv zu werden und so Druck auszuüben. So entstand die Greenpeace-Kampagne „Rechtsschutz gegen Luftschmutz“.
Die Anwältin Ellen Apitz geht noch einen Schritt weiter: „Ich werfe einer Kammer am Verwaltungsgericht mittlerweile Rechtsverweigerung vor und überlege, ob ich eine Beschwerde wegen Untätigkeit einlege.“ Ihre Mandanten sind meistens Ausländer, hauptsächlich Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. In ihren Fällen hängt von der Entscheidung der Gerichte ab, ob sie in den Krieg zurück müssen, ob sie mehr als rund 400 Mark Sozialhilfe monatlich bekommen oder ob sie arbeiten dürfen. Bei Eilverfahren, die eigentlich in vier bis sechs Wochen entschieden sein sollten, habe sie nach einem halben Jahr noch kein Urteil, sagt Apitz.
Ein kranker Libanese warte seit 1993 auf eine „Eilentscheidung“ darüber, ob er in Deutschland bleiben könne. Ihre Kollegin Csilla Ivanyi, die hauptsächlich Vietnamesen vertritt, vermutet auch hier Kalkül: „Die Behörden, die eine Aufenthaltsgenehmigung ablehnen, wissen genau: Wer klagt, um hierzubleiben, der braucht Nerven und Geld, denn in der Zeit können die Menschen ja nicht von den 400 Mark Sozialhilfe leben.“ Anders als bei Anträgen auf Baugenehmigungen können Apitz und Ivanyi ihren Mandanten nicht raten, sich mit der Behörde außergerichtlich zu einigen: Die Ausländerbehörde läßt nicht mit sich verhandeln.
Rund die Hälfte aller Verfahren am Verwaltungsgericht seien Ausländer- und Asylsachen, sagt Pressesprecher Clemens Bath. Den Notstand streitet er nicht ab: „Die lange Verfahrensdauer macht uns Sorgen. Wir arbeiten immer am Berg.“ Über 20.000 unerledigte Verfahren aus dem Jahr 1994 seien es, die die 115 Richter in diesem Jahr zusätzlich bearbeiten müßten. Normale Verfahren dauerten nach seinen Angaben ein Jahr, auf eine Eilentscheidung müsse der Bürger im Schnitt 2,9 Monate warten. Bath glaubt, den Grund für die lange Verfahrensdauer zu kennen. Schließlich sollten die Urteile ja Leitfäden für die Verwaltung sein.
Wer glaubt, Verwaltungsgerichte seien dazu da, dem Bürger effektiven Rechtsschutz gegenüber den Behörden zu gewähren, der irrt. Eine andere Ursache sieht ein Verwaltungsrichter: „Ich habe schon Kollegen gehört, die sagen, zu ihrer richterlichen Unabhängigkeit gehöre auch die Entscheidung darüber, wann sie einen Fall bearbeiten.“
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